
Die 100 großen Fragen des LebensFrage 9: Wie gerecht ist das Recht?Auszug aus dem Interview von Marc Hasse/Hamburger Abendblatt
21. April 2018, von Online-Dienste

Foto: Mark Sandten / Hamburger Abendblatt
Der Strafrechtler Florian Jeßberger (l.) und der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel
Vor Gericht, so lautet ein Sprichwort, bekomme man keine Gerechtigkeit, sondern ein Urteil. Richterliche Entscheidungen können dem persönlichen Rechtsempfinden zutiefst widersprechen, insbesondere Strafzumessungen sorgen häufig für Unverständnis. Was sagt das über unsere Rechtsordnung? Darüber sprach das Abendblatt mit dem Strafrechtler Florian Jeßberger und dem Rechtsphilosophen Reinhard Merkel von der Universität Hamburg.
Haben Sie sich schon mal über ein Gerichtsurteil geärgert, weil Sie es ungerecht fanden?
Reinhard Merkel: Ich war mal von einem zivilgerichtlichen Urteil betroffen, das ich in hohem Maße als ungerecht empfand. Es betraf eine familienrechtliche Angelegenheit. Ich finde auch die Rechtsnorm, die in diesem Fall zum Tragen kam, nicht besonders gerecht. Aber ich verstehe, dass diese Norm in einem verfassungsgemäßen Verfahren zustande gekommen ist. Ich lebe in einem Staat, der im Großen und Ganzen fair organisiert ist in seiner Rechtsordnung und in dem gilt: Gerichte haben das Recht anzuwenden – selbst wenn es im Einzelfall zu unerfreulichen Ergebnissen führt. Deshalb konnte ich das Urteil damals akzeptieren, auch wenn es mich nicht gefreut hat.
Für Aufregung sorgten in der Vergangenheit insbesondere einige Strafrechtsprozesse. Dass etwa der Raser von Rügen "nur" 39 Monate in Haft kam, nachdem er betrunken vier 18-jährige Menschen getötet hatte, empörte viele Zuschauer im Gericht. Eine Mutter klagte, der Raser bekomme als Strafe nicht mal ein Jahr pro Menschenleben. Können Sie solche Reaktionen nachvollziehen?
Florian Jeßberger: Natürlich. Es gibt eine Fülle von Beispielen, wo Betroffene nicht einverstanden sind mit der Anwendung von Recht. Aber ich möchte unterstreichen, was Reinhard Merkel gesagt hat: Recht ist nicht dasselbe wie Gerechtigkeit. Es kann auch ungerechtes Recht geben – und doch bleibt es Recht. Der durch die Herrschaft des Rechts gekennzeichnete Staat kann nicht in allen Details von allen Beteiligten als gerecht empfundene Ergebnisse produzieren.
Reinhard Merkel: Wir haben keine verbindlichen Kriterien für alle denkbaren Fragen. Vielmehr haben wir Prozeduren geschaffen, Verfahren der Auseinandersetzung, damit unsere Rechtsordnung akzeptabel, nämlich hinreichend gerecht ist. Man schaue sich Unrechtsregime an: Irgendwann organisieren sich die Leute und versuchen mit Gewalt, die Umstände zu ändern. Das ist in einer rechtsstaatlichen zivilisierten Ordnung wie der unseren nicht der Fall, auch wenn es nicht selten Protest gibt.
Florian Jeßberger: Nur ein Recht, das in seinen allgemeinen Rechtsnormen als überwiegend gerecht empfunden wird, kann für die nötige Akzeptanz sorgen, um auch respektiert zu werden. Es ist eine wichtige Funktion des Rechts, namentlich des Verfassungsrechts, die Rahmenbedingungen herzustellen, innerhalb derer dann in der Gesellschaft über die Gerechtigkeit verhandelt werden kann.
Reinhard Merkel: In strafrechtlichen Fällen wie dem Raser-Fall muss ein Gericht mehr in den Blick nehmen als den Umstand, dass es Opfer gegeben hat: das Verschulden des Täters, das persönlich zurechenbare Gewicht seiner Schuld – etwas, das die Öffentlichkeit oft nicht genügend wahrnimmt. Auch ich kann empörte Reaktionen nachvollziehen: Man sieht die Opfer, stellt sich vor, was wäre, wenn das ein Familienmitglied von mir wäre. Aber die Justiz darf das Recht nicht unter der Hand korrigieren. Es gibt aus den 1920er-Jahren einen berühmten Satz von dem Rechtsphilosophen Gustav Radbruch: "Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir verehren den Richter, der gegen sein widerstreitendes Rechtsgefühl das Recht anwendet."
Florian Jeßberger: Der Aspekt der Gerechtigkeit kann in der Rechtsanwendung als ein mögliches Argument eine Rolle spielen. Gustav Radbruch hat dazu folgende Formel geprägt: Wenn der Widerspruch des Rechts zur Gerechtigkeit so unerträglich ist, dass dieses Recht unrichtiges Recht ist, darf es nicht mehr zur Anwendung kommen. Deutsche Richter haben diesen Grundsatz etwa in den Verfahren wegen der Tötungen an der innerdeutschen Grenze angewandt. Der Bundesgerichtshof hat dabei argumentiert, dass das DDR-Grenzgesetz, das Tötungen erlaubte, in so unerträglichem Widerspruch zum Gedanken der Gerechtigkeit stehe, dass es die Tötungen in einem strafrechtlichen Sinne nicht rechtfertigen könne.
Wie wird Gerechtigkeit am besten umgesetzt?
Reinhard Merkel: Positiv bestimmen lässt sich das nicht eindeutig. Es gibt aber Schmerzgrenzen, jenseits derer man sagen kann: Hier ist etwas eindeutig ungerecht. Stellen Sie sich mal ein Strafgerichtsurteil vor, das etwa so lautet: Der Angeklagte wird zu zehn Jahren Haft verurteilt, wiewohl es dafür keinerlei gute Gründe gibt. Das ist so offensichtlich ungerecht, dass wir sagen würden: Dieses Urteil ist überhaupt kein Recht, sondern blanke Willkür. Es ist nur der Form nach ein rechtliches Urteil. In der Nazizeit gab es in Deutschland Rechtsnormen, die so offensichtlich keiner Idee der Gerechtigkeit verpflichtet waren, dass man hinterher mit guten Gründen sagen konnte: Das war kein Recht.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
Interview: Wie gerecht ist das Recht?
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