
Die großen Fragen des LebensFrage 17: Braucht man eine Work-Life-Balance?Auszug aus dem Interview von Marc Hasse / Hamburger Abendblatt
18. Juni 2018, von Online-Dienste

Foto: Michael Rauhe / Hamburger Abendblatt
Prof. Dr. Nale Lehmann-Willenbrock (l.) Professorin für Arbeits und Organisationspsychologie an der Universität Hamburg und
Prof. Dr. Bettina Wollesen, Leiterin des Arbeitsbereich Gesundheitswissenschaften an der Fakultät für Psychologie und Bewegungswissenschaft diskutieren über die Work-Life-Balance.
Beruf, Familie, Freunde, Gesundheit, Spiritualität, Ehrenamt - es kann im Leben etliche Sphären geben, die miteinander in Einklang zu bringen sind. Eine Herausforderung gerade in Zeiten der Digitalisierung, die Arbeit und Freizeit zunehmend durchdringt. Lange Arbeitszeiten könnten die Gesundheit gefährden und den Stress erhöhen, heißt es von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Lange Arbeitszeiten seien aber nicht per se schlecht, sagen die Arbeits- und Organisationspsychologin Prof. Nale Lehmann-Willenbrock und die Gesundheitswissenschaftlerin Prof. Bettina Wollesen von der Universität Hamburg. In welchem Verhältnis Arbeitstätigkeit und Freizeit zueinander stehen sollten, hänge auch von der Persönlichkeit jedes Einzelnen ab.
Laut der OECD liegt Deutschland bei der sogenannten Work-Life-Balance lediglich auf Platz acht im Vergleich der 35 Mitgliedsländer. Spitzenreiter sind die Niederlande. Was machen unsere Nachbarn denn besser als wir?
Nale Lehmann-Willenbrock: Sie machen auf jeden Fall einiges anders. In den Niederlanden gibt es die meisten Teilzeitarbeitenden im europäischen Vergleich. Arbeitnehmer haben einen Rechtsanspruch auf Homeoffice, und Arbeitgeber müssen Teilzeit- und Vollzeitarbeitnehmer gleichberechtigt behandeln. Womöglich führt diese Flexibilität zu mehr Zufriedenheit: Wer seine Arbeitszeit selbst gestalten kann, ist unter Umständen weniger gestresst. Selbstbestimmt arbeiten zu können ist eine ganz wichtige Bedingung dafür, ob Menschen ihren Job und ihr Privatleben in Einklang bringen können.
Bettina Wollesen: Die Niederlande haben auch ein anderes Gesundheitssystem als wir. In einem EU-Projekt haben wir festgestellt, dass viele niederländische Betriebe dadurch eine größere Verantwortung für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter sehen als deutsche Firmen, was dazu führt, dass es dort weniger Arbeitszeitverdichtung, Entgrenzung und Fremdbestimmung der Arbeit gibt. Hierzulande kommt es etwa wegen des Fachkräftemangels in vielen Branchen immer öfter zu einer Arbeitszeitverdichtung. Weniger Menschen müssen mehr Arbeit und mehr unterschiedliche Aufgaben erledigen. So nehmen etliche Beschäftigte die Arbeit ein Stück weit mit nach Hause, weil sie das Gefühl haben, etliches nicht geschafft zu haben.
Laut OECD-Bericht liegen die Niederlande deshalb vorne, weil dort nur sehr wenige Beschäftigte sehr lange Wochenarbeitszeiten haben. Arbeiten wir Deutschen zu viel?
Wollesen: Wahrscheinlich muss man es differenzierter betrachten. Arbeite ich, um zu leben, oder lebe ich, um zu arbeiten? Wie belastend die Arbeit empfunden wird, hat auch mit der Persönlichkeit zu tun.
Lehmann-Willenbrock: Die meisten Menschen arbeiten gerne und empfinden Arbeit als ganz wichtigen Teil ihrer Identität. Die Frage ist: Habe ich auch einen Ausgleich in meinem Privatleben und definiere mich als Mensch auch über andere Dinge, schaffe ich es, abzuschalten? Es kommt also nicht nur auf die Länge der Arbeitszeit an, sondern darauf, wie der Einzelne die Arbeit für sich definiert.
Wollesen: Es gibt allerdings deutsche Betriebe, die sich über die Länge der Arbeitszeit Gedanken machen. In einem IT-Betrieb in Bielefeld arbeiten die Mitarbeiter 25 statt 40 Stunden pro Woche für das gleiche Geld, weil der Betriebsleiter festgestellt hat: Seine Mitarbeiter schaffen in 25 Stunden so viel wie in einer 40-Stunden-Woche. Durch die neu geschaffene Freiheit sind sie motivierter und leistungsfähiger.
Wenn die meisten von uns grundsätzlich gerne arbeiten - wie kommt es dann, dass in Deutschland und gerade in Großstädten wie Hamburg zunehmend psychische Erkrankungen für Fehlzeiten sorgen?
Lehmann-Willenbrock: Das könnte daran liegen, dass psychische Erkrankungen heute eher bemerkt und diagnostiziert werden als früher und die Hemmschwelle gesunken ist, dass Betroffene sich helfen lassen. Aber wir wissen auch, dass die Belastungen in der Arbeitswelt zugenommen haben.
Wollesen: Dafür sorgt neben dem Fachkräftemangel die Digitalisierung. Durch digitale Medien kann man immer erreichbar sein - und damit auch immer verfügbar für den Arbeitgeber. So kommt es oft zu einer Vermischung von Arbeit und Privatleben.
Lehmann-Willenbrock: Wenn ich meine Studierenden frage, wann sie eigentlich mal offline sind, sagen viele: gar nicht. Das ist erschreckend - und auch ein Generationenproblem. Ständig verfügbar zu sein, ständig auf Facebook zu verfolgen, was Freunde tun, stresst ungemein und kann das Gehirn überfordern. Die Digitalisierung hat allerdings auch immense Vorteile: Sie kann zur Flexibilisierung beitragen, etwa weil sie Heimarbeit ermöglicht und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erhöht. Man kann sich auch in einem Café oder an einem schönen Strand an den Computer setzen, wenn das die Kreativität befördert.
Lassen sich durch die Digitalisierung denn Beruf und Arbeit überhaupt noch trennen?
Wollesen: Auch hier spielt die Persönlichkeit eine wichtige Rolle. Wer in den Urlaub fährt und dort zwar offline ist, aber trotzdem ständig daran denkt, was ihn bei seiner Rückkehr erwartet, ist womöglich ähnlich gestresst wie jemand, der im Urlaub ständig seine E-Mails checkt. Man kann aber nicht pauschal sagen, dass die Digitalisierung eines der Hauptprobleme bei der Vermischung von Beruf und Privatleben ist. Es kommt letztlich darauf an, wie der Einzelne mit der Entgrenzung umgeht und wie das Unternehmen handelt.
Lehmann-Willenbrock: Eine maßgebliche Funktion können direkte Vorgesetzte haben. Sie müssen Sorge tragen, dass die Ressourcen ihrer Mitarbeiter geschont werden. Das können sie tun, indem sie eine bestimmte Balance vorleben. Wer um 21.30 Uhr noch E-Mails an seine Mitarbeiter schickt, sendet damit unwillkürlich ein Signal, auch wenn keine unmittelbare Antwort erwartet wird. Wenn ein Mitarbeiter dann morgens ins Büro kommt und sieht, dass die Chefin um 21.30 Uhr noch gearbeitet hat, fühlt sich der Mitarbeiter möglicherweise schuldig. Das heißt nicht, dass Führungskräfte abends keine E-Mails mehr verschicken dürfen. Aber sie können und sollten klarstellen, wie wichtig es ist, dass nach Feierabend nicht mehr permanent alle am Rechner hängen. Daran sollten sich die Mitarbeiter halten - sie tragen ebenfalls eine Verantwortung für eine gesunde Balance zwischen Beruf und Privatleben und sollten trotz der digitalen Möglichkeiten darauf achten, auch mal abzuschalten.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
Interview: Braucht man eine Work-Life-Balance?
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