
Die großen Fragen des LebensFrage 19: Was ist wirklich wahr?Auszug aus dem Interview von Lars Haider / Hamburger Abendblatt
2. Juli 2018, von Online-Dienste

Foto: Mark Sandten / Hamburger Abendblatt
Kommunikationswissenschafter Prof. Dr. Michael Brüggemann (l.) und Dr. Alexander Dinges, Theoretische Philosophie, diskutieren über Wahrheit, Realität, Lüge und Fake News.
Wenig beschäftigt die Menschheit so sehr wie die Suche nach der Wahrheit. Doch was ist wirklich wahr und was nur wahrscheinlich? Und wie gefährlich sind Lügen? Ein Gespräch mit dem Philosophen Dr. Alexander Dinges und dem Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Michael Brüggemann.
Versuchen wir uns der Wahrheit mit einem profanen Beispiel anzunähern: Für einen St.-Pauli-Fan war der Tag des HSV-Abstiegs einer der schönsten des Jahres, für einen HSV-Fan das Gegenteil. Und was ist nun die Wahrheit?
Dr. Alexander Dinges: Das ist ein Fall, bei dem es nicht klar ist, ob es eine objektive Wahrheit gibt.
Prof. Dr. Michael Brüggemann: Beides ist wahr. Für den St.-Pauli-Fan war es ein guter Tag, für den HSV-Fan nicht. Aber das sind keine Wahrheiten, sondern Meinungen. Und alle Meinungen sind zumindest subjektiv wahr. Das ist aber etwas anderes als Aussagen, die wir als Fakten ansehen.
Ist Fakt denn immer gleich Wahrheit?
Dinges: In der Philosophie würde man jedenfalls von einer engen Verbindung ausgehen. Wenn es ein Fakt ist, dass es regnet, dann ist es auch wahr, dass es regnet.
Wobei es zu verschiedenen Fragen unterschiedliche Fakten geben kann. Nehmen wir mal die Frage, ob man sein Kind impfen lassen soll. Impfgegner werden nicht müde, jede Menge Fakten dagegen zu präsentieren …
Brüggemann: Die Impfgegner beziehen sich auf eine Studie aus dem vergangenen Jahrhundert, die längst zurückgezogen wurde, weil sie falsch war. Wenn man sich die Argumente der Wissenschaft ansieht, würde man schnell erkennen, dass es in Wahrheit vernünftig ist, seine Kinder impfen zu lassen.
Dinges: Man muss zwischen zwei Fragegruppen unterscheiden: Für die eine Gruppe gibt es keine objektiven Antworten. Für die andere kennt man diese Antworten einfach nicht oder ist noch auf der Suche danach.
Nennen Sie bitte einmal Beispiele.
Dinges: Eine subjektive Frage ist, ob der HSV-Abstieg erfreulich war. Das kann für die eine Person wahr sein und für die andere falsch. Eine objektive Frage ist, ob sich das Klima wandelt. Hier kann man sich nur fragen, ob wir wirklich wissen, wie sich das Klima wandelt, weil gewonnene Erkenntnisse in unterschiedliche Richtungen deuten können.
Was sagt man Menschen wie Donald Trump, die den Klimawandel nicht für eine Wahrheit, sondern für eine Lüge halten?
Brüggemann: Man zeigt ihnen zum Beispiel die Berichte des Weltklimarates, in denen Tausende Wissenschaftler den Stand der Klimaforschung zusammentragen. Oder man bittet sie, sich einfach einmal in der Welt umzusehen, welche Auswirkungen der Klimawandel bereits hat. Man muss nur an den Nordpol fahren oder sich an den Alpen einen Gletscher angucken …
Dinges: Leider gibt es Leute wie Donald Trump, die offenbar kein besonders großes Interesse an der Wahrheit haben.
Woher kommt das?
Dinges: Man darf nicht unterschätzen, wie schwer es ist, die Wahrheit zu sehen, wenn man eine bestimmte Überzeugung hat. Wenn man damit in die Welt schaut, sieht man primär die Dinge, die die eigene Überzeugung bestätigen. Das ist etwas, was allen Menschen passiert. Man muss sich Mühe geben, um dem entgegenzuwirken.
Heißt das: Wenn man sich auf die Suche nach der Wahrheit macht, muss man seine eigenen Überzeugungen und Einstellungen ständig überprüfen?
Brüggemann: Genau. Die Wissenschaft würde sagen: Sie müssen versuchen, Ihre eigene Meinung zu falsifizieren. Sie müssen also ständig nach Indizien suchen, die Ihre Meinung widerlegen. Die Psychologie des Menschen ist aber genau umgekehrt. Man will sich in seinen Einstellungen gern bestätigt sehen und neigt dazu, Fakten zu ignorieren, die der eigenen Weltsicht widersprechen.
Hilft uns das Internet bei einer Annäherung an die Wahrheit?
Dinges: Ich glaube schon. Natürlich gibt es im Netz viele irreführende Informationen. Trotzdem ist es auch eine riesige Quelle, um uns auf der Suche nach der Wahrheit zu unterstützen. Aber man braucht Zeit, um das Richtige vom Falschen zu unterscheiden. Und dabei muss man Informationen kritisch und mit gesundem Menschenverstand hinterfragen.
Brüggemann: Das stimmt einerseits. Andererseits findet man im Internet ja viel mehr Meinungen und vermeintliche Fakten, die das eigene Weltbild bestätigen, als früher. So kann man in die vielzitierten Filterblasen hineingeraten, die einem das Gefühl vermitteln, dass alle anderen Menschen genauso denken wie man selbst.
Die Frage bleibt, woher man weiß, ob etwas stimmt. Früher schlug man im Zweifel im Lexikon nach. Aber kann man heute genauso Wikipedia vertrauen? Ich habe selbst einen Wikipedia-Eintrag, in dem eben nicht alles richtig ist.
Brüggemann: Wir sind letztlich darauf angewiesen, auf gewisse Quellen zu vertrauen, zu denen ich auch Wikipedia zählen würde. Wenn wir solche Quellen benutzen, sollten wir aber unseren gesunden Menschenverstand nicht vergessen und uns immer fragen: Kann das überhaupt so sein, wie es dort steht?
Dinges: Manchmal hilft es, die Frage, ob man etwas weiß oder nicht, beiseitezulassen und sich zu fragen: Was ist wahrscheinlich und was weniger wahrscheinlich? Dann kommt man manchmal leichter der Wahrheit näher. Auch wenn man eventuell nicht weiß, ob ein Wikipedia-Eintrag richtig ist, bleibt es doch recht wahrscheinlich.
Also ist Wahrheit in Wahrheit nur größtmögliche Wahrscheinlichkeit?
Dinges: Nein. Auch sehr wahrscheinliche Aussagen können falsch sein.
Brüggemann: Daher müssen wir vorsichtig mit dem Verkünden von absoluten Wahrheiten sein. Man muss sich am Ende immer fragen, wie sicher man sich bei einer bestimmten Sache sein kann.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
Interview: Was ist wirklich wahr?
Interview als Podcast
Das Interview können Sie auch als Podcast des Hamburger Abendblatts auf Soundcloud anhören:
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