
Die großen Fragen des LebensFrage 24: Was fasziniert uns am Bösen?Auszug aus dem Interview von Edgar S. Hasse / Hamburger Abendblatt
6. August 2018, von Online-Dienste

Foto: Mark Sandten / Hamburger Abendblatt
Kriminologin Prof. Dr. Christine Hentschel (l.) und Bildungswissenschaftlerin Prof. Dr. Sylvia Kesper-Biermann. Der Bleistift steht für Kreativität und Scharfsinn, die Henker-Figur für mittelalterliche Justiz
Böse – das sind immer die anderen. Mit dieser Kategorie zieht die aufgeklärte Gesellschaft gern eine Grenze zwischen den „Zivilisierten“ und den „Barbaren“. Dennoch löst das „Böse“ bei vielen Menschen eine Faszination aus. Wie es dazu kommt, darüber diskutieren die Kriminologin Christine Hentschel und die Bildungsforscherin Sylvia Kesper-Biermann mit dem Hamburger Abendblatt.
Er bezeichnet die EU als Feind: Ist US-Präsident Donald Trump ein böser Mensch?
Sylvia Kesper-Biermann: Ich finde die Kategorie des Bösen schwierig. Aber viele seiner Handlungen sind für mich nicht nachvollziehbar.
Trump wirkt auf manchen Fotos unvorteilhaft und irgendwie auch böse. Vielleicht ist er gar nicht so schlecht?
Christine Hentschel: Die Frage ist natürlich verlockend, ob Trump narzisstisch, verrückt, nicht so klug oder sogar böse ist. Als Sozialwissenschaftlerin frage ich aber lieber: Was für ein Regime schafft er, was setzt er in Gang? Das ist tatsächlich verheerend. Es wäre also verkürzt, nur auf seine Person zu schauen.
Fernsehanstalten tragen zur ständigen medialen Präsenz böser Menschen bei, denken wir nur an die historischen Dokumentationen über Adolf Hitler. Was fasziniert denn die Zuschauer am Bösen?
Kesper-Biermann: Die Faszination des Bösen hat eine lange Tradition. Ich habe mich wissenschaftlich mit Foltermuseen beschäftigt. Da spielt der Aspekt der Faszination des Bösen in Gestalt der Folter und die museale Präsentation eine große Rolle. Die Zuschauer können in diesen Museen dem Bösen begegnen, ohne dass es sie selbst betrifft. Diese Distanz erzeugt beim Betrachter eine Mischung aus Abscheu und Vergnügen.
Wieso?
Kesper-Biermann: Ich würde mit der Emotionsforschung argumentieren: Ekel, Abscheu als Emotion spielt eine Rolle, aber auch Lust. Gerade dann, wenn moralische Grenzen überschritten werden.
Empfindet jeder Mensch Abscheu, Ekel und Lust, wenn er sich zum Beispiel Gewaltdarstellungen im Film anschaut?
Hentschel: Wir alle können diese Emotionen mobilisieren, und oft sind verschiedene, scheinbar widersprüchliche Emotionen gleichzeitig am Werk. Zum Beispiel: Viele, die von Trump gar nichts halten, lassen sich von seinen Tweets und Skandalen immer wieder hinreißen. Mit dem Unterhaltungswert dieses dramatischen politischen Agierens müssen wir uns auseinandersetzen.
Welche kulturellen Techniken sollte man entwickeln, um sich diesem Unterhaltungswert zu entziehen?
Hentschel: Sich zu entziehen ist tatsächlich eine interessante Variante: den atemberaubenden Rhythmus der Absurditäten nicht einfach mitzumachen. Dann lässt sich der Blick schärfen für die eigentlichen Ungeheuerlichkeiten. Eine andere Möglichkeit verfolgt die politische Satire, vor allem in den Late Night Shows: In der leichtfüßigen wie unverschämten Auseinandersetzung mit der Regierung Trump findet gegenwärtig eine interessante und erfrischende Form der Kritik statt.
Kesper-Biermann : Indem wir darüber sprechen, verhandeln wir darüber, was böses und gutes Verhalten ist. Am Beispiel der Folter und ihrer Darstellung in den Museen wird deutlich: Längst ist die Ablehnung der Folter in unserer Gegenwart zur gesellschaftlichen Norm geworden. Früher dagegen war sie fester und nicht hinterfragter Bestandteil des Strafverfahrens.
Welches Foltermuseum in Deutschland können Sie denn empfehlen?
Kesper-Biermann : Ich kann Ihnen leichter die Frage beantworten, welches ich nicht empfehlen kann. Es gibt viele Foltermuseen, in denen Dinge so ausgestellt werden, dass Emotionen und Sensationen im Mittelpunkt stehen, was häufig zulasten wissenschaftlicher Geschichtsbilder geht. Es sind hauptsächlich private, kommerzielle Unternehmen, die nach diesem Konzept arbeiten.
Auch das Hamburg Dungeon?
Kesper-Biermann: Das funktioniert im Prinzip genauso.
Verstehen Sie jene Menschen, die sich das anschauen?
Kesper-Biermann: Ja, weil es für sie eine Form der Selbstvergewisserung ist – nach dem Motto: Das war früher, damit haben wir heute nichts mehr zu tun.
Ist die zivilisatorische Decke in unserer Gesellschaft wirklich so stark?
Hentschel: Sicher nicht. Wir können eine Nervosität im öffentlichen Diskurs darüber vernehmen, dass die Demokratie nicht so stabil ist, wie wir bisher vielleicht geglaubt haben. Denken wir nur an die rechtspopulistischen Herausforderungen.
Wer sind denn die Garanten des Guten?
Hentschel: Das Gute muss immer wieder erkämpft und gesellschaftlich ausgehandelt werden.
Und was ist das Böse?
Kesper-Biermann: Was als böse angesehen wird, wandelt sich im Verlauf der Geschichte. Grundsätzlich gilt: Was in jeder Epoche als Böses angesehen wird, wird gesellschaftlich sanktioniert. Bis zu einem gewissen Grade spiegeln die jeweils geltenden rechtlichen Normen über Gut und Böse gesellschaftliche Vorstellungen wider.
Machen der Staat, der Fürst, die Kirchen dafür normative Vorgaben?
Kesper-Biermann: Ja, die Religion hat früher großen Einfluss gehabt auf Vorstellungen über gutes und richtiges Verhalten.
In der NS-Zeit galt die Tötung sogenannten lebensunwerten Lebens als „gut“ - die Euthanasie.
Kesper-Biermann : Sie wurde tatsächlich von Teilen der Gesellschaft unterstützt. Die Euthanasie ist aber auch ein Beispiel dafür, wie wachsender Widerstand in der Bevölkerung dazu geführt hat, dass sie zumindest offiziell nicht mehr vollzogen wurde.
Noch einmal nachgehakt: Was ist denn nun das „Böse“?
Hentschel: Das Böse ist eine Konstruktion, mit der wir eine Grenze zwischen „uns“ und „dem anderen“, dem „Zivilisierten“ und dem „Barbarischen“ ziehen. Wir lokalisieren das Böse gern außerhalb von uns selbst, im Terroristen oder Kinderschänder, und definieren damit, was wir nicht sind und wen es zu bestrafen, auszuschließen oder zu verändern gilt. Als Sozialwissenschaftlerin erklärt mir die Kategorie jedoch nicht viel. Wenn man sagt, er oder sie war ganz böse, braucht man nicht die Frage nach gesellschaftspolitischen Bedingungen zu stellen. Aber diese Frage ist wichtig.
Wie hat sich das Böse in der Geschichte gewandelt?
Kesper-Biermann: Im Mittelalter und der frühen Neuzeit wurde es oft mit dem Übernatürlichen verknüpft, etwa dem Teufel als Person.
Die Leidtragenden waren damals zum Beispiel die „Hexen“.
Kesper-Biermann: Sie wurden als mit dem Bösen verbündet angesehen. Aus Sicht der Zeitgenossen galten sie als eine reale Gefahr.
Könnte man sagen: Das heute Gute wird in 100 Jahren womöglich als das Böse bewertet?
Hentschel: Das ist eine interessante, eine schwere Frage. Wir müssen sie uns vor allem als politisch interessierte Menschen stellen. Welche verheerenden Effekte entstehen aus gedankenlosen, unkoordinierten Handlungsweisen und der Weigerung, Verantwortung zu übernehmen? Ich denke an die Klimakatastrophe, das Infragestellen von Menschenrechten und den wachsenden Autoritarismus. Das sind besorgniserregende Entwicklungen, für die wir so ein Gedankenexperiment – wie sieht das aus der Zukunft aus? – sehr gut gebrauchen können, um uns klarzumachen, auf welchem Weg wir sind.
Kesper-Biermann : Die Folter ist das beste Beispiel für einen Wandel der Wahrnehmung, was gut oder böse ist. Über Jahrhunderte ist gefoltert worden, ohne dass das problematisch war. Folter war ein normaler Bestandteil des Strafverfahrens, den kaum jemand für verwerflich hielt. Um 1800 vollzog sich aber ein Wandel in der Wahrnehmung. Da hat man gesagt: Folter ist die Inkarnation des Bösen. Es kann sein, dass wir in 100 Jahren Ähnliches über das heute vermeintlich Gute sagen.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
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