
Die großen Fragen des LebensFrage 32: Was bin ich eigentlich meinen Eltern schuldig?Auszug aus dem Interview von Marc Hasse / Hamburger Abendblatt
1. Oktober 2018, von Online-Dienste

Foto: Roland Magunia / Hamburger Abendblatt
Prof. Dr. Julia Pauli (l.) zeigt einen mexikanischen Árbol de la Vida. Dieser „Lebensbaum“ symbolisiert den Austausch zwischen Eltern und Kindern. Prof. Dr. Dagmar Felix, Expertin für Öffentliches Recht und Sozialrecht zeigt das Sozialgesetzbuch.
Sie wechseln Windeln und ertragen schlaflose Nächte. Sie kochen, backen, füttern und pflegen, helfen bei den Hausaufgaben, karren den Nachwuchs zum Sport oder zum Geigenunterricht. Sie lassen sich Löcher in den Bauch fragen und Lärm über sich ergehen. Eltern geben viel Zeit, Geduld und Geld für ihren Nachwuchs, im Idealfall zumindest. Müssen Kinder deshalb etwas zurückgeben? Ein Gespräch mit Prof. Dr. Dagmar Felix, Professorin für Öffentliches Recht und Sozialrecht, und der Ethnologin Prof. Dr. Julia Pauli von der Universität Hamburg.
Es ist Ende September, aber für viele Menschen dürfte jetzt schon feststehen, wo sie Weihnachten verbringen werden: bei ihren Eltern. Ist das ein Muss für Kinder?
Dagmar Felix: Es dürfte für viele ein Pflichttermin sein. Eltern ist es wichtig, dass ihre Kinder an Weihnachten zu Hause sind. Jenseits aller religiösen Aspekte ist Weihnachten ein emotional sehr aufgeladenes Fest. Wer seine Eltern liebt, tut ihnen mit einem Besuch etwas Gutes, auch wenn er selbst das Fest womöglich lieber woanders mit Freunden feiern würde.
Julia Pauli: Dass viele Menschen das Weihnachtsfest bei den Eltern verbringen, hat mit Ritualen zu tun, die elementar sind für die Aufrechterhaltung von Beziehungen. Wir brauchen bestimmte Standardisierungen, um uns anderen Menschen nahe zu fühlen. Das kann Weihnachten sein, aber auch ein anderes Fest. Es macht Sinn, Weihnachten zu den Eltern zu fahren, wenn sie einem wichtig sind.
Dagmar Felix: Wir schulden unseren Eltern solche Besuche aber nicht. Das Wort „schulden“ würde ich im Kontext jeder privaten Beziehung ohnehin ablehnen. Man stelle sich vor, dass die Mutter sagt: Sohn, du schuldest mir, dass du Weihnachten bei mir bist, weil ich dich auf die Welt gebracht und erzogen habe. Da möchte ich mir nicht ausmalen, wie dieses Fest endet. Weihnachten verläuft oft nicht so harmonisch wie gewünscht, weil sich Menschen zwanghaft versammeln, obwohl sie einander nicht nahestehen.
Im Idealfall haben Eltern 18 Jahre lang bestmöglich für ihr Kind gesorgt. Ergibt sich daraus nicht doch die Verpflichtung zu einer Dankbarkeit, die sich in Zuwendung äußert?
Felix: Eltern entscheiden sich für Kinder, nicht umgekehrt. Dass Eltern sich dann 18 Jahre wunderbar um ihre Kinder kümmern, kann Dankbarkeit erzeugen, aber aus Dankbarkeit ergibt sich keine Verpflichtung.
Pauli: Beziehungen basieren immer auf Formen des Austausches. Wenn ich jemandem etwas gebe, dann erwarte ich in irgendeiner Form, dass etwas zurückgeben wird. Das kann zu Weihnachten passieren, aber auch bei vielen anderen Gelegenheiten, und es muss nicht eins zu eins geschehen: Ich kann etwas Materielles bekommen und etwas Emotionales zurückgeben.
Aber unterscheidet sich die Eltern-Kind-Beziehung nicht von anderen Beziehungen insofern, dass sie selbstlos sein sollte?
Pauli: Es gibt keine Beziehungen, die keinen Austausch beinhalten. Austausch ist die Grundlage des Sozialen. Bei Verwandten geht es allerdings zentral um Sorgebeziehungen. Es gibt bestimmte Menschen in unserem Leben, die mehr Sorge übernehmen oder übernommen haben als andere. Es sind diese Menschen, die man an Weihnachten besucht. Das kann aber auch eine Schwester der Mutter sein.
Früher galten Kinder als Altersversorgung. Wie ist das heute?
Felix: Wir haben in Deutschland ein ausgefeiltes Sozialsystem. Kinder sind zur Alterssicherung heute nicht mehr erforderlich – im Gegenteil, man riskiert Altersarmut, wenn man Kinder aufzieht und deshalb nicht voll arbeiten kann.
Pauli: Ich bin mir nicht sicher, ob sich Kinder hierzulande nicht mehr um ihre alternden Eltern kümmern müssen. Selbst wenn Kinder nicht mal einfachste Versorgungsaufgaben übernehmen, muss doch jemand diese Versorgung organisieren. Etliche Eltern werden erwarten, dass ihre Kinder hier einspringen. Auch das unterscheidet die Eltern-Kind-Beziehung von Freundschaften: Man erwartet von Freunden nicht, dass sie einen im Alter pflegen.
Müssen wir dieser Erwartung der Eltern entsprechen?
Felix: Aus rechtlicher Sicht gibt es durchaus Pflichten, die allerdings im Gesetz vage formuliert sind. Im BGB steht: Eltern und Kinder sind einander Beistand und Rücksichtnahme schuldig. Daraus könnte man ableiten, dass ein Kind sich um die Organisation des Pflegeheimplatzes kümmern muss. Wirklich einklagbar sind diese Pflichten aber nicht. Das Gesetz ist das eine, die Moral das andere: Wer seine Eltern fünf Jahre lang nicht einmal besucht hat, wird in seinem Umfeld für Irritationen sorgen.
Darf man sich nicht fünf Jahre lang nur um sich selber kümmern?
Felix: Natürlich darf man das, aber man macht vielleicht andere unglücklich. Ich möchte allen Menschen, die mir nahestehen, etwas Gutes tun – aber nicht, weil es als moralisch gilt. Es ist mir einfach eine Herzensangelegenheit, mich um einen Freund zu kümmern, dem es schlecht geht. Und so sollte man es auch mit seinen Eltern halten. Im besten Fall sind Liebe und das Interesse an einer guten Beziehung die Triebfeder, sich seinen Eltern zuzuwenden.
Pauli: Wobei dann die Frage ist, was eine gute Beziehung ausmacht. Sie muss nicht unbedingt emotional befriedigend sein. Eine gute Beziehung kann man auch als eine Beziehung zu einem Menschen definieren, von dem ich weiß, dass er auf jeden Fall da ist, wenn es mir sehr schlecht geht. Dieses Moment der Institutionalisierung, das gibt es eher bei Verwandtschaft. Freundschaft ist weitaus fluider, weniger verlässlich.
Manche Kinder rufen ihre Eltern täglich an, andere greifen alle drei Monate zum Hörer. Wovon hängt das ab?
Felix: Das sind Dinge, die in Familien unbewusst ausgehandelt werden. Es gibt keinen allgemeingültigen Rahmen. Wer seiner Mutter Blumen schenkt, wird damit allerdings eine Erwartungshaltung produzieren, und es wird zu Enttäuschungen führen, wenn er beim nächsten Mal keinen Strauß mitbringt. Was man in einer Beziehung gibt, ist immer auch eine Hypothek in die Zukunft.
Pauli: Vieles tun wir aufgrund von Nachahmung. Schon als Kinder beobachten wir etwa, wie unsere Cousinen mit ihren Müttern agieren und finden vielleicht, dass dieses Modell auch für uns attraktiv ist, weil beide Parteien – Mütter wie Kinder – sehr zufrieden mit ihrer Beziehung wirken. Wir werden zudem geprägt von Filmen, Büchern und von Freunden, bei denen wir sehen, dass Beziehungen in einer bestimmten Art und Weise gelebt werden. All das ist Teil eines kulturellen Kontextes, in dem bestimmte Erwartungen produziert werden, die man erfüllen oder auch ganz bewusst verweigern kann.
Felix: Die meisten Menschen denken wohl nicht darüber nach, ob sie ihren Eltern etwas schulden, weil sie mindestens 18 Jahre anders sozialisiert worden sind. Grundsätzlich wachsen Kinder doch eher mit einer Nehmermentalität auf. Dass sich dies in dem Moment ändert, in dem sie ausziehen, ist unwahrscheinlich.
Entweder hat man schon als Kind der Mama Blumen geschenkt, oder ...
Felix: ... man wird es später auch nicht tun.
Pauli: Es kann schon noch Veränderungen geben, obwohl man in eine bestimmte Familie und Kultur hineingeboren wird. Ich glaube zwar auch nicht, dass dies beim Auszug der Fall ist. Aber wir sehen in Studien deutliche Unterschiede, wenn die ausgezogenen Kinder ihr erstes Kind bekommen. Das definiert die Beziehung zu den Eltern oft neu. Und interessanterweise kommen dort auch neue Formen des Austausches hinzu: Sehr häufig übernehmen die Eltern dann Versorgungsleistungen vor allen gegenüber ihren Töchtern und unterstützen sie mit den Kindern.
Ist es sinnvoll, sich an anderen zu orientieren?
Felix: Ich würde jedem raten, seinen eigenen Weg im Umgang mit den Eltern zu finden. Ansonsten bleibt nur zu hoffen, dass man in einer Eltern-Kind-Beziehung intuitiv weiß, was gut für beide Seiten ist – und es gelingt, das auch zu leben.
Was aber ist mit Eltern-Kind-Beziehungen, in denen es nicht so gut läuft?
Felix: Wenn eine Beziehung nicht für beide Seiten schön ist, würde ich sie beenden. Irgendwann allerdings meldet sich vielleicht das Sozialamt und verlangt Geld für den Unterhalt meiner Eltern von mir.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
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