
Die großen Fragen des LebensFrage 35: Ist der Mensch etwas Besonderes?Auszug aus dem Interview von Marc Hasse / Hamburger Abendblatt
29. Oktober 2018, von Online-Dienste

Foto: Marcelo Hernandez / Hamburger Abendblatt
Nein, es ist kein exotisches Haustier, das Evolutionsbiologin Jun.-Prof. Dr. Mathilde Cordellier da in der Hand hält, sondern ein Modell des Gemeinen Wasserflohs. In natura ist das Tierchen ein bis vier Millimeter groß. Mit Ethik und Religionsphilosophie beschäftigt sich der evangelische Theologe Prof. Dr. Christoph Seibert
Jeder Mensch ist einzigartig. Aber haben wir eine herausgehobene Stellung wegen unserer Fähigkeiten, stehen wir an der Spitze der Evolution? Das kommt auf die Perspektive an, sagen die Evolutionsbiologin Mathilde Cordellier und der evangelische Theologe Christoph Seibert. Grundsätzlich trage der Mensch wegen seiner Fähigkeiten eine besondere Verantwortung – für seine Mitmenschen ebenso wie für seine Umwelt.
Pflanzen, Tiere, Menschen – wir sind alle das Ergebnis der biologischen Evolution. Der Mensch jedoch ist sich seiner selbst bewusst, er kann nach seinem Ursprung und seiner Bestimmung fragen, er kann eine Moral haben, über Gott und die Welt diskutieren. Macht uns das zu etwas Besonderem?
Mathilde Cordellier: Zunächst einmal gilt: Der Mensch ist auch ein Tier – und er ist im Vergleich mit anderen Tieren zumindest nichts Besonderes, wenn wir die Größe des Erbguts betrachten. Unser Genom besteht aus knapp 3,3 Milliarden Basenpaaren. Das Erbgut des Lungenfischs ist fast 40-mal größer, es setzt sich aus rund 130 Milliarden Basenpaaren zusammen. Betrachtet man die Anzahl der Gene, also der Abschnitte im Erbgut, die Informationen für die Entwicklung von Eigenschaften enthalten, schneidet der Mensch mit schätzungsweise 22.000 Genen kaum anders ab als der Gemeine Wasserfloh mit seinen etwa 20.000 Genen. Viele Pflanzen haben mehr Gene als der Mensch. Allerdings gibt es keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Größe des Genoms und den Eigenschaften und Fähigkeiten eines Organismus.
Mit der Größe unseres Genoms liegen wir also nur im Mittelfeld – aber Menschen haben doch ein komplexes Sozialleben.
Cordellier: Ja, aber das gilt auch für viele Tiere. Ameisen und Bienen etwa haben ebenfalls ein komplexes und dem Menschen ähnliches Sozialleben. Bei Ameisen gibt es allerdings etwas, das so in menschlichen Gesellschaften nicht vorkommt: Von Geburt an ist entschieden, was aus einer Ameise wird, etwa eine Arbeiterin oder eine Soldatin. Dass es in unseren Gesellschaften keine derart feste Einteilung gibt, kann man wohl als glücklichen Umstand bezeichnen – aber das ist unsere Perspektive. Ein Ameisenvolk wäre mit einer flexiblen Arbeitsaufteilung womöglich weniger effizient. Ähnlichkeiten mit dem Menschen gibt es übrigens auch bei der Wahrnehmung von sozialen Situationen: Es deutet zum Beispiel einiges darauf hin, dass Tiere sich für Misserfolge schämen. Es wurden etwa junge Affen beobachtet, die einen Sprung nicht geschafft hatten, auf den Boden fielen und sich dann schnell zu ihrem Alphatier umdrehten, um dessen Reaktion auf das Missgeschick zu sehen.
Wenn wir uns nicht durch unser Sozialleben abheben, dann vielleicht durch unseren Erfindergeist: Der Mensch hat das Rad erfunden und das Auto, er hat Medikamente entwickelt, die gegen Krankheiten helfen. Ist das nicht etwas, was uns besonders macht?
Cordellier: Auch andere Lebewesen haben Dinge erfunden, die ihnen helfen. Das Rad kann man im weiteren Sinne in die Klasse der Werkzeuge einordnen. Werkzeuge zu nutzen gilt zwar als typisch menschliche Fähigkeit, aber auch Krähen beispielsweise nutzen Werkzeuge. Sie können etwa mit einem Stock Nahrung aus Löchern hervorholen. Affen nutzen Stöcke ebenfalls als Werkzeuge.
Aber Affen und Krähen können Werkzeuge nicht einsetzen, um damit Autos zu bauen. Sind wir in der Evolution nicht weiter gekommen und somit fortschrittlicher?
Cordellier: Alle Lebewesen, die heute existieren, haben sich im Zuge der Evolution über Jahrtausende entwickelt und dabei unterschiedlichste Fähigkeiten entwickelt. Einige Arten können Gift absondern, um sich zu schützen, andere können sich ihrer Umgebung anpassen, wieder andere sind geschickte Baumeister. Man kann vielleicht sagen, dass wir Menschen uns sehr gut entwickelt haben, aber nicht, dass wir in der Evolution weitergekommen sind als andere Organismen. Es kommt darauf an, was man als weiterentwickelt betrachtet.
Christoph Seibert: Wir sind anders, aber deshalb nicht zwangsläufig besser. Der Mensch verfügt über Kompetenzen, die sich zumindest nicht in gleichem Maße anderen Tieren zuschreiben lassen. Wir können etwa abstrakt denken und mit Begriffen wie Gesetz oder Kosmos umgehen, die sich auf große Zusammenhänge beziehen. Man kann auch sagen, dass wir unser Leben unter Einschluss von übergeordneten Gesichtspunkten wie Normen und Prinzipien führen. Dadurch sind wir nicht auf unsere nächste Umwelt beschränkt, sondern können sie überschreiten. Diese Fähigkeit ist grundlegend für vieles andere.
Cordellier: Was uns auch auszeichnet: Wir forschen. Man kann wohl nicht sagen, dass andere Tiere unsere Umwelt so systematisch ergründen, wie wir es tun. Und wir tun das ja nicht, weil wir nach Nahrung suchen, sondern einfach, um Dinge zu verstehen. Oder nehmen wir Kunst und Literatur: Dass man nur eines Objektes wegen etwas tut, also zum Beispiel ein Bild malt oder ein Buch schreibt, das gibt es nur beim Menschen.
Seibert: Jede Gattung ist etwas Besonderes. Aber der Mensch lebt in seinen Räumen zumindest anders als Tiere, weil er andere Möglichkeiten hat. Diese Möglichkeiten rühren letztlich daher, dass der Mensch nicht mit sich identisch ist. Er ist kein „festgestelltes“ Tier. Er kann sich vielmehr von sich selbst unterscheiden, ein Selbstbild ausbilden und sich etwa über Sprache von seiner Umwelt distanzieren. Darin liegt der Grund, dass er überhaupt Verantwortung wahrnehmen kann, aber auch, dass er sich gegenüber sich selbst verfehlen kann. Beides ist Tieren nicht möglich.
Apropos Räume: Der Mensch hat Häuser gebaut und Städte, er hat sich weltweit eigene Umwelten geschaffen.
Cordellier: Ja – aber ob das in einem positiven Sinne etwas Besonderes ist, darüber kann man streiten, schließlich hat der Mensch an vielen Stellen die Natur verdrängt. Davon abgesehen haben sich auch Tiere verändert und angepasst an die moderne Welt, die wir Menschen geschaffen haben. In Großbritannien haben Blaumeisen gelernt, vom Milchmann vor die Haustüren gelieferte Milchflaschen zu öffnen, um an die Sahne im Deckel zu kommen.
Haben wir uns von der Natur und von der Evolution entkoppelt – und stehen deshalb darüber?
Seibert: Das hieße ja, wir hätten nichts mehr mit dem Werden zu tun, in dem das Leben sich erneuert. Dem ist aber nicht so. Wir sind immer noch organische Wesen. Unser Handeln beeinflusst die Umwelt – und Veränderungen der Umwelt beeinflussen wiederum uns.
Cordellier: Dass wir uns nicht von der Natur und der Evolution entkoppeln können, zeigt sich zum Beispiel an Infektionskrankheiten: Auch in unseren Städten sind wir vor gefährlichen Keimen nicht gefeit, trotz vieler Medikamente können wir gegen manche Erreger, die sich wie alle Organismen im Zuge der Evolution verändern, kaum etwas ausrichten. Ein Beispiel sind Bakterien, die gegen Antibiotika resistent werden.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
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