Wo hinter allen Zeichen eine Geschichte steht
2. Januar 2019, von Hendrik Tieke
Die Schrift ist die wohl größte technologische Errungenschaft der Menschheit. Ohne sie gäbe es keine Staaten, keine Weltreligionen und kaum Wissen um die Vergangenheit. Die Universität Hamburg ist ein globales Zentrum der Erforschung von Handschriften.
Über 60 Forscherinnen und Forscher untersuchen hier, wie die Menschheit die Schrift seit ihrer Erfindung nutzt; ab 2019 werden es mehr als 200 sein. Sie kommen aus den Kulturwissenschaften, der Geschichtswissenschaft, der Archäologie, den Sprachwissenschaften und den Naturwissenschaften. Eine von ihnen ist die Althistorikerin Prof. Dr. Kaja Harter-Uibopuu, deren Spezialgebiet antike Inschriften sind. Wir haben Sie gefragt: Warum schreiben Menschen? Warum hat der Mensch die Schrift erfunden? Und gibt es eine typisch hamburgische Schriftkultur?
Frau Prof. Dr. Harter-Uibopuu, warum schreiben Menschen?
Wenn Menschen heute die Schrift nutzen, kann das beinahe unendlich viele Gründe haben: Sie notieren sich etwas, damit sie beim Einkaufen nichts vergessen, sie errichten Straßenschilder, damit sich Ortsfremde zurechtfinden können, oder sie schreiben Tagebuch und tauschen sich per Chat-Apps über ihren Alltag aus. Wie sie die Schrift nutzen, spiegelt immer auch ihre Gesellschaft und Kultur wider. Deshalb können wir aus Schriftstücken zum Beispiel lernen, was Menschen konsumieren und oft auch, wo sie das tun.
Wir erfahren daraus, wie Städte aufgebaut und organisiert sind und wie man mit der Erinnerung an vergangene Ereignisse und historische Personen umgeht. Wir können in Schriftstücken persönliche Geschichten lesen und zwischenmenschliche Beziehungen analysieren. Schließlich hat das Schreiben fast immer mit dem Erinnern zu tun und ist in jedem Fall eine höchst persönliche Angelegenheit. Zudem geschieht es immer noch sehr oft mit der Hand — trotz der fortschreitenden Digitalisierung.
Wie ist die Schrift entstanden?
Die Entwicklung der Schrift hat mit den Lebensumständen der Menschen zu tun. Solange sie in kleineren Gruppen als Nomaden umherzogen oder in Dörfern wohnten, gab es keine Notwendigkeit, anders als mündlich zu kommunizieren. Erst ab einer gewissen Größe der Siedlungen musste man Informationen auf anderem Weg austauschen, denn die Verwaltung wurde komplizierter und der Wunsch, Vergangenes aufzuzeichnen, entstand. Außerdem wurde es notwendig, die Regeln des Zusammenlebens dauerhaft festzuhalten.
In Mesopotamien, auf dem Gebiet des heutigen Irak, hatten die Siedlungen vor knapp 6000 Jahren die entsprechende Größe und Komplexität erreicht. Deshalb erfand man dort ein Werkzeug, um Sprache darzustellen: die Schrift. Die ersten erhaltenen Texte sind Verwaltungsdokumente und Verzeichnisse von Abgaben, festgehalten auf Tontafeln. Später begann man dann etwa religiöse oder politische Texte aufzuzeichnen, Rechtsregeln zu fixieren und Literatur zu verfassen.
Was ist das Besondere an Inschriften?
Inschriften werden meistens für die Öffentlichkeit verfasst und auf mehr oder weniger dauerhaftem Material festgehalten. Sie finden sich fast überall und sind in besonderem Maß mit ihrem Aufstellungsort verbunden. Lassen Sie mich das an einem Beispiel aus der Antike erklären: Im 5. Jahrhundert vor Christus versuchte das persische Großreich zwei Mal, die griechischen Stadtstaaten zu unterwerfen. Dabei gingen die Griechen zwar als Sieger hervor, doch ihre mächtigste Stadt, Athen, war zerstört worden. Die Athener gründeten daraufhin einen neuen Bund zum Schutz vor einem weiteren persischen Angriff. Danach errichteten sie zwei etwa vier Meter hohe steinerne Stelen vor der zerstörten Akropolis, dem wichtigsten städtischen Heiligtum. Diese Stelen waren von weitem zu sehen; auf ihnen verzeichneten die Athener in großen Lettern die Beiträge, die alle Mitgliedstaaten in die von ihnen verwaltete Bundeskasse einzahlten.
Jedem Griechen und jeder Griechin signalisierten sie damit: Wir sind eure Anführer; seht, was durch einen persischen Angriff passieren kann und was wir verhindern wollen. Es ist also nie nur der Text selber, von dem wir auf die Motive der Verfasser und Verfasserinnen schließen können. Es sind auch der Ort, an dem er verwendet wird, sein Design und seine Einbettung in Symbole, Bilder und Formen. Auch aus dem Material können wir Schlüsse ziehen: Stelen aus Stein wie die in Athen sollen die Zeit überdauern; was darauf steht, soll auch für zukünftige Generationen gelten. Genau so können wir auch heutige Inschriften, in unseren eigenen Städten, untersuchen und interpretieren.
Gibt es eigentlich eine Schriftkultur, die für Hamburg typisch ist?
Was mir an manchen Gegenden in Hamburg sofort aufgefallen ist, sind die Graffiti: In alternativ geprägten Stadtteilen wie dem Schanzenviertel oder St. Pauli findet man sie an beinahe jeder Hauswand; im reicheren Blankenese oder Eppendorf gibt es sie nur vereinzelt. Vermutlich liegt das an den unterschiedlichen Subkulturen der Hamburger Viertel: In manchen Gegenden leben mehr Menschen, die gerne ihre Meinungen oder ihre künstlerischen Ideen an Hauswände sprühen. In Stadtteilen wie Blankenese oder Eppendorf würden diese Leute vermutlich auf ein wenig interessiertes Publikum treffen und ihre Botschaften würden schnell wieder entfernt werden – deshalb sind sie eher in ihrer eigenen Nachbarschaft aktiv.
Ansonsten empfinde ich die Verwendung von Schrift im Hamburger Stadtbild als recht zurückhaltend: In Wien, wo ich lange gelebt habe, springen einen prunkvolle Inschriften regelrecht an, zum Beispiel an vielen öffentlichen Gebäuden, an Häusern des ehemaligen Adels, an Kirchen oder Museen. In Hamburg findet man dagegen eher dezente Inschriften und Plaketten an ausgewählten historischen Gebäuden. Auch die Grabkultur unterscheidet sich im protestantischen Norden grundlegend vom katholischen Österreich. Grabsteine sind in Hamburg meist sehr nüchtern gehalten, während sie in Salzburg oder Wien durch die Inschrift und den Dekor ausführlich Auskunft über den Bestatteten und seine Familie geben.
Als typisch hamburgisch empfinde ich außerdem die Inschrift über dem Rathaustor: „Die Freiheit, die die Vorfahren errungen haben, soll die Nachwelt würdig zu erhalten streben.“ Wie die alten Athener vor 2500 Jahren in Griechenland inszenieren die Hamburgerinnen und Hamburger hier ihr Selbstverständnis an einem zentralen Ort – nur eben nicht als Anführerinnen und Anführer Deutschlands, sondern als unabhängige deutsche Hansestadt.
Wie werden Schrift und Schriftstücke an der Universität Hamburg erforscht?
Die Universität Hamburg ist ein globales Zentrum der Schriftforschung: Unsere Forscherinnen und Forscher aus den Kulturwissenschaften, der Geschichtswissenschaft und der Archäologie interpretieren handschriftliche Texte und Inschriften – und ordnen sie in das bisherige Wissen über die Gesellschaften und Regionen ein, in denen sie entstanden. Unsere Kolleginnen und Kollegen aus der Biologie, Chemie und der Mineralogie untersuchen das Trägermaterial der Texte, zum Beispiel Pergament, Papyrus und Papier oder Holz, Stoff und Stein. Und unsere Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler analysieren Rhythmus, Wortwahl oder Grammatik von solchen Schriftstücken.
Bei all dem wollen wir die Antworten auf große Fragen finden: Wie verändern sich Schrift und der Umgang damit im Verlauf der Geschichte? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es zwischen den verschiedenen Schriftkulturen unserer Welt? Und wie haben sie sich gegenseitig beeinflusst? Momentan sind wir mehr als 60 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die im Sonderforschungsbereich „Manuskriptkulturen in Asien, Afrika und Europa“ gemeinsam die Schriftlichkeit der Menschheit erforschen. Ab Januar 2019 werden wir über 200 Forscherinnen und Forscher aus verschiedenen Fachrichtungen sein. Dann startet der Exzellenzcluster „Understanding Written Artefacts“, der seine Wurzeln in diesem Sonderforschungsbereich hat und einer der vier Exzellenzcluster unserer Universität ist.
Zur Person
Kaja Harter-Uibopuu ist seit 2015 Professorin für Alte Geschichte an der Universität Hamburg. Im Exzellenzcluster „Understanding Written Artefacts“ ist sie stellvertretende Sprecherin und die Expertin für griechische Inschriften. Sie hat estnische Wurzeln und ist in Salzburg aufgewachsen. Sie studierte Alte Geschichte und Altertumskunde in Graz. Danach hat sie in Österreich, Deutschland und den USA vor allem die Geschichte des antiken griechischen Rechts erforscht und ihr Wissen an Studierende weitergegeben.
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Kontakt
Prof. Dr. Kaja Harter-Uibopuu
Universität Hamburg – Arbeitsbereich Alte Geschichte
Überseering 35
22297 Hamburg
Tel.: +49 40 42838 4758
E-Mail: kaja.harter"AT"uni-hamburg.de