
Die großen Fragen des LebensFrage 60: Warum weinen wir?Auszug aus dem Interview im Hamburger Abendblatt
23. April 2019, von Online-Dienste

Foto: Sandten/Abendblatt
Wo geweint wird, sind Taschentücher meist nicht weit. Prof. Kaja Harter-Uibopuu und Prof. Sönke Arlt.
Der Gedanke, dass Weinen unsere Seele reinigt, stammt bereits aus der Antike. Damals heuerte man für Trauerfeiern sogar Klagefrauen an. Was Tränen mit unserer Seele machen, warum sie ein Mittel der Kommunikation sind und wie eigentlich der Begriff Krokodilstränen entstanden ist, erklären die Historikerin Prof. Kaja Harter-Uibopuu und der Psychiater Prof. Sönke Arlt.
Ist Weinen reinigend – in mehr als einer Beziehung?
Prof. Sönke Arlt: Ja, das stimmt. Physiologisch gesehen haben Tränen die Funktion, Fremdkörper aus dem Auge herauszuspülen. Auch die ätherischen Öle, die wir beim Zwiebelschneiden freisetzen, reizen wie ein Fremdkörper das Auge und lösen Tränen aus. Tränen machen also die Sicht wieder klar. Sie enthalten Antikörper und Zytogene, die antibakteriell wirken. Aber auch psychologisch gesehen kann Weinen reinigend sein.
Prof. Kaja Harter-Uibopuu: Das haben bereits die alten Griechen erkannt. Hippokrates und Aristoteles haben dies erstmals erkannt und sich mit der Katharsis beschäftigt. Letzterer empfahl sogar, sich gelegentlich bewusst anrührenden Situationen auszusetzen, beispielsweise ein Theaterstück anzuschauen – als ein gezielt eingesetztes Instrument, um die Seele zu reinigen oder eine Überlast an Gefühlen abzubauen.
In die moderne Zeit übertragen, würde dieser Rat lauten: ins Kino gehen, sich einen Schmalzfetzen ansehen und mal so richtig schön ausheulen.
Arlt: So könnte man es sagen. Allerdings mögen das nicht alle Menschen. Frauen setzen sich dem bereitwilliger aus; für Männer ist es schambesetzter, weswegen deutlich weniger Männer im Kino oder über Büchern weinen.
Aber an sich ist es heilsam?
Arlt: Es kommt drauf an. Weinen kann wichtige Emotionen anzeigen. Wenn beispielsweise ein Patient in der Psychotherapie weint, sehen wir, dass ein entscheidender, emotionaler Punkt getroffen ist, der therapeutisch beleuchtet werden und weiterführen kann. In Phasen von Trauer können Tränen bei der Bewältigung helfen und Trost geben. Es gibt aber auch ein verzweifeltes Weinen, unter dem die Patienten leiden. Insbesondere sind Tränen dann nicht unbedingt befreiend, wenn das dahinter stehende Grundproblem nicht gelöst ist. Die meisten Menschen verspüren beim Weinen erst eine Anspannung und danach eine Müdigkeit, wodurch Weinen dann eher als entlastend und tröstend erlebt wird.
Wovon hängt es ab, ob Weinen hilft oder nicht?
Arlt: Auch vom sozialen Kontext. Es gibt Situationen, in denen Tränen normal oder angemessen erscheinen, und andere, in denen dies nicht der Fall ist. Weinen kann ja auch schambehaftet sein. Die meisten Menschen weinen am liebsten allein. Manche Patienten sagen: Ich kann gar nicht mehr aufhören zu weinen. Oder es geht ihnen so schlecht, dass sie nicht einmal mehr weinen können, zum Beispiel weil durch eine Depression alle Gefühle wie betäubt erscheinen. Also: Manchmal gibt das Weinen einem Affekt, der unterdrückt worden ist, Raum und wirkt so befreiend. Manchmal wird es vom Betroffenen aber auch als unkontrollierbar wahrgenommen und vermittelt das Gefühl der Ohnmacht gegenüber überbordenden Emotionen. Dann tut es nicht gut.
Menschen, die weinen, sind also psychisch nicht unbedingt gesünder?
Arlt: Nein, so verallgemeinern kann man das nicht.
Harter-Uibopuu: Auch der gesellschaftliche Kontext ist wichtig. Für uns Historiker ist es spannend zu sehen, wie das Weinen im Verlauf der Geschichte in den zur Verfügung stehenden Quellen bewertet wird. In unseren ersten literarischen Quellen, den Epen von Homer aus dem achten Jahrhundert vor Christus, ist das Weinen für Männer völlig in Ordnung. Die homerischen Helden weinen andauernd, aus unterschiedlichen Anlässen – ebenso wie Frauen und auch Götter. Dann scheint es eine Wende zu geben. Ab dem 6./5. Jahrhundert vor Christus werden die Quellen deutlicher und sagen klar, Männer sollten sich unter Kontrolle haben und zurückhalten. Frauen gesteht man auch in der antiken Klassik noch wesentlich mehr Gefühle zu.
Durfte Kleopatra weinen?
Harter-Uibopuu: Privat, beim Tod des Antonius, tat sie das. Sie wird aber nicht in ihrer Rolle als Königin geweint haben; sie war eine Frau, die dem Bild ihrer Führungsrolle zu entsprechen versucht hat.
Arlt: Auch heute gibt es Untersuchungen, wonach Frauen in Führungspositionen weniger weinen. Sie sind immer noch in einer Männerwelt unterwegs – und da wird nicht geweint.
Harter-Uibopuu: Seit dem sechsten Jahrhundert vor Christus wurde öffentliches Weinen und Wehklagen bei Trauerfeiern im antiken Griechenland sogar gesetzlich eingeschränkt. Es hatte überhandgenommen: Menschen mieteten für Trauerfeiern eigens Klagefrauen an, die laut lamentierten, sich auf die Brust schlugen und Staub und Asche über sich warfen, die Haare rauften - alles, was man an typischen Gesten kennt. Diese überbordenden Trauerbekundungen wurden verboten, allerdings nicht das normale Weinen bei einem Todesfall. Philosophen wie Platon, aber auch Gesetzgeber in der Antike sahen in unkontrollierten Emotionen eine Gefahr für den Staat.
Bleibt es über die folgenden Jahrhunderte hinweg bei den unterschiedlichen Zuschreibungen für Männer und Frauen?
Harter-Uibopuu: Im Großen und Ganzen ja. Zumindest solange die klassischen Rollenzuweisungen gültig sind – die Frau also für die Familie und das Heim zuständig ist, der Mann für Kampf und Politik. Man unterscheidet zwischen Weinen – bei einem Trauerfall – und anhaltendem Jammern und Klagen. Jammern darf ein Mann nicht, aber Weinen unter bestimmten Umständen schon.
Und heute?
Harter-Uibopuu: Wir sind von der klassischen Rollenverteilung, wie wir sie aus der Geschichte kennen, noch nicht so weit entfernt. Frauen gesteht man Weinen in der Öffentlichkeit immer noch eher zu als Männern.
Arlt: Ich meine, es verändert sich schon gesellschaftlich etwas. In psychotherapeutischen Sitzungen wird nicht selten geweint, weil es um emotional wichtige Themen geht. Da öffnen sich auch Männer zunehmend mehr. Die Kriegsgeneration, die enorm Schweres erlebt, aber darüber teilweise jahrzehntelang geschwiegen hat, stirbt langsam aus. Die jetzt Älteren sind anders aufgewachsen und zeigen mehr Gefühle. Auch Männer sind stärker an Emotionen und Bindungen interessiert. Die Rollenbilder werden fließender, auch wenn wir im Hinblick auf das Gefühle-Zeigen noch weit weg von echter Gleichberechtigung sind.
Harter-Uibopuu: Seit wann nehmen Sie das wahr?
Arlt: Die 1968er-Bewegung war da eine Initialzündung. Seither verändern sich Rollenbilder und gesellschaftliche Rahmenbedingungen in Wellen weiter. Immer häufiger bleiben auch Väter zu Hause und erleben dann ihre Kinder emotional ganz anders als früher.
Sind Tränen auch ein Mittel der Kommunikation?
Arlt: Unbedingt. Weinen ist meist ein Anzeiger für intensives emotionales Erleben, das für andere dann durch die Tränen und Mimik erkennbar ist. Kinder haben schon sehr früh die emotionale Ausdrucksmöglichkeit des Weinens mit Tränen, die ungefähr mit vier Wochen einsetzt, also viel früher als die Sprache. Eltern können daraus das emotionale Erleben der Säuglinge ablesen.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
zum Interview: Warum weinen wir?
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