
Die großen Fragen des LebensFrage 61: Was ist Realität?Auszug aus dem Interview im Hamburger Abendblatt
29. April 2019, von Online-Dienste

Foto: Mark Sandten / Hamburger Abendblatt
Medial vermittelte Wirklichkeit: die Medienwissenschaftlerin Prof. Dr. Joan Kristin Bleicher (l.) und die Diplom-Psychologin Valeska Hug.
Ganz real debattierten in diesem Interview die Medienwissenschaftlerin Prof. Dr. Joan Kristin Bleicher und die Diplom-Psychologin Valeska Hug von der Universität Hamburg in der Redaktion des Abendblatts. Doch schnell wurden in dem Gespräch die Grenzen der Realität überschritten. Ist Reality-TV real? Stimmt nicht! Selbst die beliebten Tierdokumentationen im Fernsehen sind inzwischen stark fiktional geprägt. Und ein Wasserglas wird schnell zum Objekt eines Krimis.
Ich habe ein Glas Wasser mitgebracht. Was sehen Sie?
Hug: Da fällt mir die Frage ein, ob das Glas halb voll oder halb leer ist.
Und was sagen Sie?
Hug: Halb voll, wie ich es als Optimistin sehe.
Bleicher: Ich sehe es genauso und knüpfe damit an die Wahrnehmung der anderen Personen in diesem Raum an.
Und wenn ich jetzt behaupten würde, das Glas wäre voll?
Bleicher: Dann wären Sie Gastwirt (lacht).
Und jetzt sage ich: Das Glas ist so voll, dass es gleich überläuft.
Bleicher: Dann haben wir einen Realitätskonflikt. Indem ich Ihnen widerspreche, unterstelle ich Ihnen, dass Sie mir eine andere Realität verkaufen wollen. Deswegen brachte ich auch den Vergleich mit den Gastwirten. Sie lieben es ja, weniger einzuschenken als sie abrechnen. Und mit der Intention, Geld zu verdienen.
Was ist in der Medienwelt die Intention?
Bleicher: Aus der Perspektive der Medienwissenschaft beeinflusst das Framing unsere Wahrnehmung, in diesem Fall meine Beobachtung des Glases. Wenn ich einen Dokumentarfilm sehe und darin ein Glas vorkommt, gehe ich davon aus, dass es ein Abbild der Wirklichkeit ist. Wenn ich aber einen Kriminalfilm sehe, erwarte ich, dass in dem Glas Gift verborgen ist. Es wird also ein Rätsel verknüpft, weil ich ein bestimmtes Handlungsmuster erwarte. Es kommt daher auf den Genre-Kontext an.
Das Gehirn ist ja das eigentliche Instrument zur Verarbeitung von Wahrnehmung.
Hug: Das Auge nimmt den Reiz wahr, die optische Wahrnehmung wird dann an die zuständigen Gehirnareale weitergeleitet, die schließlich den Sinneseindruck produzieren. Am Ende erfolgt die sensorische Integration, also der Abgleich mit bereits gespeichertem Wissen und damit die eigentliche Wahrnehmung. Ohne die Auseinandersetzung mit der Umwelt könnte das Gehirn gar nicht auf entscheidende Assoziationen zurückgreifen, um zu erkennen: das ist ein Glas. Die aktuelle Empfindung, aber auch Einstellungen und Annahmen über die eigene Person und die Welt sind entscheidend für die Bewertung des Wahrnehmungseindrucks.
Gibt es daher nicht eine, sondern viele Realitäten?
Hug: Ja. Es können verschiedene Realitäten nebeneinanderstehen. Gerade bei meiner therapeutischen Arbeit mit Menschen, die an einer Psychose leiden, macht es keinen Sinn zu bewerten, ob meine Wahrnehmung oder die meines Gegenübers wahrer und damit realer ist.
Was ist Realität aus psychologischer Sicht?
Hug: Realität ist ein subjektives Abbild einer wie auch immer gearteten „objektiven Wirklichkeit“, die davon abhängig ist, welche Verarbeitungsleistung unser Gehirn hat, welche Erfahrungen man gemacht hat, welche Grundannahmen sich daraus entwickelt haben und wie ich mich aktuell fühle. Wenn ich viele negative Erfahrungen gemacht habe, dann kann sich die Annahme entwickeln, dass die Welt generell ein böser Ort sei.
Frau Bleicher, Sie sind Medienwissenschaftlerin. Wie erklären Sie Ihren Studenten Realität?
Bleicher: Ich warne sie vor der naiven Auffassung, Realität sei medial abbildbar und Medieninhalte ein reines Abbild der Realität. Komplexer wird es bei Theorien, die besagen, Medien konstruieren Realität. Sie beeinflussen Realität bereits in der Auswahl von Wirklichkeitsbereichen und in der Form ihrer Darstellung.
Wie sollten Mediennutzer mit der Informationsflut umgehen?
Hug: Es geht stark darum, welcher Typ von Rezipient man ist. Menschen, die interessiert und analytisch strukturiert sind, werden ein breiteres Medienangebot nutzen. Wenn aber der gezielte Fokus auf bedrohliche Inhalte der Medien zu einer starken Einschränkung der Lebensqualität führt, wie das teilweise bei unseren Patienten der Fall ist, kann es ratsam sein, sich von Medien zeitweise zu distanzieren.
Zur digitalen Welt gehören Filterblasen.
Bleicher: Filterblasen werden kontrovers diskutiert. Es gibt Forscher, die sagen, das Phänomen wird überschätzt. Generell gilt, dass Qualitätsmedien einen umfassenderen Anspruch der Wirklichkeitsvermittlung haben, vielfältigere Informationen anbieten als Filterblasen, die auf bestimmte Themen und Meinungen beschränkt sind.
Welche Nutzen ziehen Menschen aus dem Konsum von Filterblasen?
Bleicher: Die Bestätigung ihrer eigenen Meinung. Das ist ja auch das Phänomen des postfaktischen Zeitalters: Ich glaube meiner gefühlten Wirklichkeitswahrnehmung mehr als den objektiven Fakten in der Medienberichterstattung.
Sind die beliebten Tier-Dokumentationen auch Reality-TV?
Bleicher: Bei Tierdokumentationen wird der Einfluss des Reality TV besonders deutlich erkennbar. Dokumentationen erheben traditionell den Anspruch, Wirklichkeit wiederzugeben. Doch werden sie gerade im Bereich der Tier- und Zoo-Dokumentationen feststellen, wie stark inzwischen eine Fiktionalisierung erfolgt ist. Da wird kein Pinguin mehr gezeigt, der einen Fisch jagt, sondern Pinguin Erwin, der seine Familie ernähren will. Reality-TV ist Teil medialer Grenzgänge zwischen Fakten und Fiktion.
Weil Menschen gerne Geschichten hören?
Bleicher: Ja. Die Fiktionalisierung entspricht der Erlebnisorientierung des Fernsehens.
Deswegen hat der ehemalige Spiegel-Reporter Relotius sehr stark auf Fiktion gesetzt?
Bleicher: Die Reportage ist traditionell eine Gattung, die Fakten mit narrativen Elementen aufbereitet. Im Fall Relotius kann man sagen, dass er auf diese Darstellungsform zurückgegriffen hat.
Wie ist dieser Fall ethisch zu bewerten?
Bleicher: Ich weiß nicht, ob diese Fragestellung hilfreich ist.
Man kann es auch juristisch bewerten!
Bleicher: Das wird ja bereits auf breiter Basis diskutiert. Ich ordne Relotius der Traditionslinie des New Journalism zu. Ihr Begründer Tom Wolfe betonte die Möglichkeit, Wirklichkeit als Erzählung zu vermitteln. In ethischer Hinsicht bleibt zu fragen, ob und wie man diesen narrativen Charakter deutlich macht.
Warum lieben Menschen über Jahrtausende ihrer Kulturgeschichte Erzählungen?
Hug: Geschichten befriedigen das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Früher hat man sich Geschichten eng aneinander gekuschelt am Lagerfeuer erzählt. Sie vermitteln ihre Botschaften auf leicht verständliche und emotionale Art und Weise und geben Werte und Wissen unserer Kultur weiter. Damit schaffen sie eine Grundlage für die Entwicklung unserer Identität.
Die Geschichten müssen nicht wahr sein?
Hug: In gewisser Hinsicht haben sie immer Realitätsbezug, weil sie die Grundbedürfnisse des Menschen ansprechen und es jedem Einzelnen ermöglichen, eine Sinnstruktur zu erschaffen.
Bleicher: Geschichten wurden auch erzählt, um - wie Mythologien – Welt zu erklären. Und an Erzählungen über Abenteuer konnte man teilhaben, ohne sich selbst zu gefährden. Information und Erlebnissteigerung sind also wesentliche Motive für die Rezeption von Geschichten.
Welche Geschichten der Menschheit sind die prägendsten?
Bleicher: Für mich nach wie vor religiöse Erzählungen wie die Bibel etwa mit den Gleichnissen Jesu. Seine Bergpredigt vermittelt ein Lebensmodell und Wertesystem. In dem Moment, wo ich als „Zuhörer“ Wirklichkeit als etwas von Gott Gewolltes erlebe, muss ich nicht mehr mit Unwägbarkeiten umgehen. Religion ist etwas Sinnstiftendes.
Viele Menschen brauchen keine Religion, sie gucken Reality-TV.
Bleicher: Es ist eine Form der realitätsnahen Unterhaltung, die durchaus als Religionsersatz fungieren kann. Es gibt ganz verschiedene Erzählungen vom neuen Leben: Frauen tauschen ihre Haushalte, Schuldenberater helfen aus der Schuldenkrise, Auswanderer zeigen ihr Leben im neuen Land. Reality-TV hat mit gleichbleibenden Konflikten und Rollenmustern in hohem Maße fiktionale Anteile. Die Zuschauer gehen dabei einen Pakt mit dem Produzenten ein, das Gesehene für die Dauer der Sendung als wahr zu akzeptieren. Die Bezeichnung Reality TV suggeriert, dass alles auf Fakten basiert.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
zum Interview: Was ist Realität?
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