
Die großen Fragen des LebensFrage 72: Wird Pflege bald unbezahlbar?Auszug aus dem Interview im Hamburger Abendblatt
15. Juli 2019, von Online-Dienste

Foto: Michael Rauhe
Die Experten: Prof. Dr. Matthias Augustin (l.) und Prof. Dr. Jonas Schreyögg.
Sein Auftritt in der ARD-Wahlarena löste 2017 eine große Diskussion aus. Der Krankenpflege-Auszubildende Alexander Jorde prangerte gegenüber Kanzlerin Angela Merkel die Zustände in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen an: „Tagtäglich wird die Würde der Menschen tausendfach verletzt.“ Doch was kann man tun gegen den Pflegenotstand? Wird Pflege unbezahlbar? Darüber sprach das Abendblatt mit den Experten der Universität Hamburg, Prof. Dr. Jonas Schreyögg und Prof. Dr. Matthias Augustin.
Angenommen, ich müsste in zehn Jahren stationär in ein Krankenhaus. Kann ich mich dann noch darauf verlassen, dass ich gut gepflegt werde? Schon jetzt suchen viele Kliniken händeringend Pflegekräfte.
Prof. Dr. Matthias Augustin: Für gut geführte Krankenhäuser wie das UKE bin ich da sehr optimistisch. Wir sind in Hamburg privilegiert, die Metropolregion ist attraktiv, das UKE erst recht. Deshalb haben wir vergleichsweise viele Bewerbungen. Aber grundsätzlich würde ich Ihnen raten, bei der Wahl der Klinik auch darauf zu achten, wie die Pflege personell aufgestellt ist.
Prof. Dr. Jonas Schreyögg: Das sehe ich genauso. Studien zeigen, dass mit einer nicht ausreichenden Besetzung in der Pflege das Risiko steigt, im Krankenhaus Infektionen zu bekommen oder sogar zu sterben.
Augustin: Pflegekräfte sind die Ersten, die in einer lebensbedrohlichen Situation am Bett sind und die auch frühe Zeichen einer gefährlichen Entwicklung bemerken.
Schreyögg: Das Problem ist nur die mangelnde Transparenz. Ein Patient kann kaum vorab erkennen, wie viele Pflegekräfte auf einer Station arbeiten. Das gilt auch für andere wichtige Informationen zur Qualität.
Wie könnte das funktionieren?
Schreyögg: Man könnte harte und nicht manipulierbare Daten zur Qualität in den Krankenhäusern erfassen bzw. messen und diese wie in den USA mit einem Ampelsystem veranschaulichen.
Augustin: Mehr Transparenz würde auch dafür sorgen, dass der Druck auf die Krankenhäuser steigt, besser zu werden. Wenn eine Klinik beim Personalschlüssel im Vergleich schlecht abschneidet, weiß die Leitung, dass sie dringend nachbessern muss, um nicht Patienten zu verlieren. Wichtig sind aber auch qualitätsbezogene Parameter wie Qualifizierung und Zufriedenheit.
Schreyögg: Das eigentliche Problem besteht gar nicht darin, dass wir zu wenige Pflegekräfte haben. In Wahrheit haben wir viel zu viele Krankenhäuser in Deutschland. Häuser, die wir gar nicht brauchen, nehmen bedarfsnotwendigen Häusern die Pflegekräfte weg.
Sollte man die Krankenhäuser in kleineren Gemeinden einfach dichtmachen?
Schreyögg: Nein. Je nach Lage benötigen Sie dort ein Krankenhaus der Grundversorgung. Das heißt aber nicht, dass dort auch ein komplexer Schlaganfall behandelt werden sollte. Dies sollte den Maximalversorgern vorbehalten sein. Insgesamt benötigen wir eine systematische Bestandsaufnahme bedarfsnotwendiger Krankenhäuser in Deutschland.
Da werden sich die Landräte aber freuen. Oft zählt das Krankenhaus zu den größten Arbeitgebern.
Schreyögg: Deshalb kann ich ja die Furcht der Landräte verstehen, nicht wiedergewählt zu werden. Wobei es ja über den Strukturfonds vorgesehen ist, Krankenhäuser in ambulante Versorgungszentren umzuwandeln. Das wird bisher zu wenig gemacht. Um wirklich voranzukommen, brauchen wir eine Art Kohle-Kommission im Krankenhaus-Bereich. Eine Region muss unter Umständen für den Verlust eines Krankenhauses kompensiert werden. Da geht es um relativ viel Geld, da darf man sich nichts vormachen. Aber wir werden es nicht schaffen, alle Krankenhäuser, die derzeit am Netz sind, in Zukunft mit genügend Pflegekräften auszustatten.
Was kann man tun, damit Pflege als Beruf wieder attraktiver wird?
Augustin: Wir müssen die Rahmenbedingungen verbessern. Dabei geht es auch darum, Pflegekräfte im Beruf zu halten. Wenn sie zu wenig Zeit für ihre Patienten haben, weil der Arbeitsdruck zu groß ist, steigt die Gefahr, dass sie kündigen.
Ver.di sieht das Gehalt als Schlüssel. Aber wenn die Löhne immer weiter steigen, könnte Pflege unbezahlbar werden.
Schreyögg: Aus Studien wissen wir, dass das Gehalt nicht die entscheidende Komponente ist, um den Beruf attraktiver zu machen. Das Hauptproblem ist die Verdichtung der Arbeit. Deshalb halte ich auch die jetzt beschlossenen Pflege-Untergrenzen, wo genau festgelegt wird, wie viele Pflegekräfte mindestens auf den Stationen arbeiten müssen, für das wichtigste Instrument, um Pflege attraktiv zu machen.
Pflegekräfte in der Altenpflege verdienen deutlich schlechter.
Schreyögg: Das stimmt. Und wir müssen sehr aufpassen, dass die Lücke nicht noch größer wird. Dann hätten Pflegeheime noch mehr Probleme, Pflegekräfte zu finden.
Chefärzte galten früher als Halbgötter in Weiß, Pflegekräfte als Erfüllungsgehilfen. Wie sehr stimmt dieses Bild noch mit der Realität überein?
Augustin: In meiner Klinik sicher nicht. Aber auch in anderen Häusern nicht mehr. Denn inzwischen haben alle Beteiligten erkannt, dass wir ein kollegiales System brauchen mit gegenseitiger Wertschätzung. Andernfalls kommt es ganz schnell zu Belastungen und zu Schwund an Motivation und damit Kündigungen. Wir besprechen beispielsweise jede Behandlung stets im Team aus Ärzten und Pflegekräften.
Wie groß ist die Chance, dass durch Digitalisierung die Pflege entlastet wird?
Augustin: Elektronische Patientenakten ersparen viel Dokumentationsarbeit. Und in Dänemark gibt es Kliniken, wo die Patienten bei der Aufnahme einen Tablet-Computer bekommen, mit dem sie sich virtuell durch das Krankenhaus bewegen können. Das ist gut für eine erste Orientierung. Diese Entwicklung wird sicher weitergehen.
Schreyögg: Wir haben in Deutschland in diesem Bereich noch Nachholbedarf. Wir müssen die Schnittstellen weiter optimieren, damit alle Daten des Patienten bei Pflegekräften und Ärzten verfügbar sind. Auf der anderen Seite glaube ich nur bedingt an Pflege-Roboter. Schon aus ethischen Gründen sollte die patientennahe Versorgung weiter in menschlichen Händen bleiben.
Augustin: So ist es. Die Digitalisierung soll dem Patienten nutzen. Wir etwa geben Patienten mit chronischen Wunden nach der Entlassung ein Smartphone mit. Damit können uns Fotos von der Wunde nach einem Verbandswechsel geschickt werden. Die prüfen wir und entscheiden, ob wir den Patienten wieder bitten, zu uns zu kommen. Das ist viel besser als eine automatische Einbestellung in festen Abständen und unterstützt außerdem die Versorgung vor Ort.
1997 deckte Rechtsmediziner Prof. Klaus Püschel bei Leichenschauen gravierende Mängel in der Altenpflege auf. Die Körper vieler alter Menschen wiesen Druckgeschwüre auf. Ist die Situation in Pflegeheimen besser geworden?
Augustin: Es war richtig, dass Prof. Püschel damals an die Öffentlichkeit gegangen ist. Die Druckgeschwüre waren ja nur ein Punkt, wo die Vernachlässigung offensichtlich wurde. Viele ältere Menschen hatten auch schlechte Gebisse und konnten nicht mehr richtig essen. Die Situation hat sich deutlich verbessert. Aber wir müssen dennoch weiter genau hinschauen, da durch den Personalmangel in den Pflegeheimen das Risiko wieder steigt.
Manche Pflegeheime setzen Roboterrobben ein. Das Plüschtier reagiert auf Berührungen und dreht den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kommt. Bei Demenzerkrankten wird die Illusion erzeugt, die Robbe sei echt. Ist das ethisch vertretbar?
Schreyögg: Als meine Kinder noch klein waren, gab ich den Kuscheltieren echte Namen und Stimmen. Auch dort verschwimmt Fantasie mit Wirklichkeit. Da sehe ich kein Problem. Problematisch wäre es aus ethischer Sicht, wenn man die menschliche Interaktion durch Roboter ersetzen würde. Aber davon kann hier keine Rede sein.
Augustin: Ich nenne Ihnen noch ein anderes Beispiel. Wir haben in der Essener Hautklinik eine Studie begleitet, wo man schwer krebskranken Menschen einen Tablet-Computer mit Videoclips gegeben hat, in denen die anstehende Operation erklärt wurde. Dies hat die Angst vor dem Eingriff nachweislich gesenkt. Aber es ersetzt nie das Gespräch zwischen Mediziner und Patient.
Bleibt unter dem ständigen Zeitdruck noch ausreichend Gelegenheit für persönliche Gespräche am Kranken- oder Pflegebett?
Augustin: Im Medizinstudium werden durch alle Semester Kenntnisse in der ärztlichen Gesprächsführung vermittelt. Die Studierenden lernen, wie wichtig Empathie in ihrem Beruf ist. Dies gilt auch für Pflegeberufe. Wenn Ärzte und Schwestern dies dann auf den Stationen vorleben, ist die Zeit auch da.
Der Pflegekritiker Claus Fussek sagt, dass angesichts des Personalnotstands in der Altenpflege auch Bewerber genommen werden, die im Zoo scheitern würden, weil sie nicht verantwortungsvoll mit Lebewesen umgehen können.
Schreyögg: Studien zeigen, dass sich gerade Altenpfleger aus einer tiefen inneren Überzeugung für diesen Beruf entschieden haben. Mit entsprechend viel Empathie kümmern sie sich um die alten Menschen. Pauschalurteile gegenüber dieser Berufsgruppe finde ich unangemessen.
Augustin: Das sehe ich auch so. Aber wir müssen aufpassen, dass dieser Idealismus nicht durch ständige Überforderung verloren geht. Das führt zu Frust und einer inneren Verabschiedung.
Pflegeheime wie Krankenhäuser werben zunehmend um Personal aus dem Ausland. Viele Bewohner und Patienten klagen über Verständigungsschwierigkeiten.
Schreyögg: Natürlich müssen wir darauf achten, dass Pflegekräfte aus dem Ausland vergleichbar ausgebildet sind, dazu gehören auch gute Deutschkenntnisse. Aber die Lösung unserer Personalprobleme kann nicht auf Dauer darin liegen, Pflegekräfte aus Osteuropa oder Asien abzuwerben. Zum einen holen Länder wie die Tschechische Republik wirtschaftlich stark auf, da wird ein Wechsel nach Deutschland zunehmend unattraktiver. Zum anderen ist es ethisch nicht zu vertreten, dass wir Personal aus Regionen wie den Philippinen rekrutieren, wo die Bevölkerung in den nächsten Jahren besonders stark altern wird.
Deutschlands größter Pflegedienst sind die 2,5 Millionen pflegenden Angehörigen …
Augustin: Wenn jemand aus Überzeugung einen Angehörigen pflegt, finde ich das richtig und anerkennenswert. Problematisch wird es, wenn dies aus ökonomischer Not geschieht, weil man sich eine stationäre Pflege nicht leisten kann. Deshalb wird ja auch darüber diskutiert, ob man den Eigenanteil in der Pflegeversicherung festschreiben sollte.
Mehr Bewohner in Pflegeheimen würden aber die Personalprobleme verschärfen.
Schreyögg: Wir müssen solche Fragen in Deutschland grundsätzlich diskutieren. Viele halten es gesellschaftlich für sinnvoller, mehr Mechatroniker auszubilden als Pflegekräfte. Dabei sehen wir doch den Strukturwandel in den letzten Jahren. Aber wenn man 100.000 oder mehr Auszubildende für den Pflegeberuf finden will, geht dies nur über eine Aufwertung des Status.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
zum Interview: Wird Pflege bald unbezahlbar?
Prof. Dr. Matthias Augustin (57) ist Direktor des Instituts für Versorgungsforschung in der Dermatologie und bei Pflegeberufen (IVDP) und ist dort auch klinisch als Dermatologe tätig. Der gebürtige Göttinger (Studium in Hamburg, Mailand, Freiburg, Basel und Boston) ist Präsident des Deutschen Wundrates und der Deutschen Gesellschaft für Präventivmedizin und Präventionsmanagement. Er lehrt Gesundheitsökonomie und Lebensqualitätsforschung an der Uni Hamburg und ist Mitgründer des Hamburg Center for Health Economics (HCHE).
Prof. Dr. Jonas Schreyögg (43) arbeitete nach dem Studium der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre an der TU Berlin. Von 2006 bis 2007 forschte und lehrte der gebürtige Nürnberger in Stanford. Nach seiner Habilitation 2008 war er unter anderem Professor an der Universität München. Seit 2010 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Management im Gesundheitswesen (MIG) der Universität Hamburg. Schreyögg leitet seit 2011 das von ihm mitgegründete Hamburg Center for Health Economics (HCHE). Es ist das größte gesundheitsökonomische Forschungszentrum in Deutschland. Schreyögg ist außerdem Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen.
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