Die großen Fragen des LebensFrage 73: Wie überwinden wir Barrieren?Auszug aus dem Interview im Hamburger Abendblatt
22. Juli 2019, von Online-Dienste
Foto: Andreas Laible
Prof. Dr. Sven Degenhardt trägt ein barrierefreies Türschild aus der Universität Hamburg, Prof. Dr. Annika Herrmann ein Lichtsignal für Gehörlose.
Wer nicht richtig sehen, sprechen oder laufen kann, steht im Alltag vor Herausforderungen – für Experten stellen aber nicht die Behinderungen der Menschen, sondern der Umgang der Gesellschaft mit ihnen das größte Problem dar. Die Gebärdensprachlinguistin Prof. Dr. Annika Herrmann und der Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Sven Degenhardt von der Universität Hamburg erklären, wie sich Barrieren mit intelligenter Planung beseitigen lassen – und welche Vorteile das auch Menschen ohne Behinderung bringt.
Wie lassen sich Barrieren überwinden?
Prof. Dr. Sven Degenhardt: Am wichtigsten ist das richtige Bewusstsein dafür, was eine Behinderung überhaupt ist. Wir haben sie über Jahrzehnte den Menschen zugeschrieben und die Betonung darauf gelegt, dass sie zum Beispiel nicht sehen, laufen oder hören können. Im Gegenteil ist es aber die Gesellschaft, die mit diesen Beeinträchtigungen nicht umgehen kann und die Betroffenen deshalb behindert.
Prof. Dr. Annika Herrmann: In der Wissenschaft hat sich die Definition von einer Behinderung bereits eindeutig von einem medizinischen zu einem sozialen und kulturellen Phänomen verschoben. Das ist im allgemeinen Bewusstsein noch nicht angekommen.
Was bedeutet das in der Praxis?
Degenhardt: Wir müssen auf die Möglichkeiten zur Teilhabe schauen. Die Lösung gibt uns die UN-Behindertenrechtskonvention gewissermaßen schon vor: Es darf niemand dadurch diskriminiert werden, dass ihm ein Zugang vorenthalten wird.
Herrmann: Bei Barrierefreiheit liegt erst einmal der Gedanke an Treppen oder Rampen für Rollstuhlfahrer nahe. Tatsächlich ist eine kommunikative Barrierefreiheit genauso wichtig.
Degenhardt: Wie berechtigt der Anspruch auf Teilhabe in allen Lebensbereichen ist, kann man auch im Umkehrschluss sehen. Jeder nicht beeinträchtigte Mensch geht ja zu Recht davon aus, dass er einen Film auch rezipieren und genießen kann, wenn er sich eine Kinokarte kauft. Für Menschen mit Beeinträchtigungen muss das absolut genauso gelten.
Wie weit sind wir als Gesellschaft bei dieser Gleichberechtigung?
Degenhardt: Wir haben uns auf den Weg gemacht, aber es gibt in so gut wie jedem Bereich noch viel Luft nach oben für Verbesserungen. Die USA können uns etwa bei der Überwindung der Barrieren in vielen Bereichen noch ein Vorbild sein. Gehen Sie dort etwa einmal in eine Bar – dann sehen Sie viele Monitore, auf denen ganz unterschiedliches Programm läuft, und im Hintergrund läuft Musik. Das funktioniert, weil es immer Untertitel gibt. Und im ersten Anlauf ist es aus dem Gedanken der Zugänglichkeit für Menschen mit Beeinträchtigungen entstanden – dann hat sich gezeigt, dass es auch für eine große Menge von Menschen komfortabel ist.
Herrmann: Tatsächlich kann die ganze Gesellschaft profitieren. Denn Menschen mit Behinderungen bringen eine andere Perspektive auf die Welt mit, die immer fruchtbar ist. Bei Tauben sind dies zum Beispiel die ausgeprägten visuellen Fähigkeiten, aber auch die Fähigkeit zur Körpersprache. Das kann man beispielsweise auch gezielt in Kursen mit Architekturstudierenden oder in Theaterproduktionen einbringen.
Die Erlebnismuseen „Dialog im Dunkeln“ und „Dialog im Stillen“ haben seit Jahren großen Erfolg in Hamburg. Interesse scheint also vorhanden zu sein.
Degenhardt: Wichtig ist, die Situation der Menschen mit Beeinträchtigungen nicht nur zu simulieren, sondern mit ihnen in Kontakt zu kommen. Diese Gespräche sind das, was nachhaltig ist.
Herrmann: Für mich ist eines der stärksten Argumente für mehr Kommunikation und ein Nachdenken über Barrierefreiheit, dass eine zugängliche Gesellschaft auch eine fröhliche Gesellschaft ist. Allein die Selbstironie und der Humor, den Menschen mit Beeinträchtigungen mitbringen, ist erfrischend.
Was müsste idealerweise zu einer barrierefreien Gesellschaft gehören?
Herrmann: Das fängt ganz sicher mit den baulichen Begebenheiten an, also mit markierten Treppenstufen und Brandschutzsignalen und Türschildern nach dem Zwei-Sinne-Prinzip. Auch Neubauten sind bislang nicht immer barrierefrei gebaut. Bei der kommunikativen Barrierefreiheit geht es um zugängliche Internetseiten, das Angebot von Gebärdensprache und zum Beispiel darum, Symbole zu verwenden, die nachvollziehbar sind.
Degenhardt: Zentral ist ein gewisses Umdenken. Wenn man immer nur die Probleme anguckt, läuft man den Problemen auch immer hinterher. Deutlich besser ist es, vorausschauend zu denken. Und das ist eine Gesamtaufgabe.
Im Einzelfall eine 100-prozentige Barrierefreiheit herzustellen klingt aber zumindest schwierig.
Degenhardt: Richtig, einige Barrieren ergeben ja auch Sinn. Etwa, dass die Plätze im Theater begrenzt sind oder es Straßensperrungen gibt. Diesem Argument, dass es Zugänglichkeit nur selten wirklich unbegrenzt gibt, begegnen wir oft. Das darf aber doch nicht bedeuten, dass man es deswegen gleich sein lässt. Wenn man etwa bei Bauten nicht an Barrierefreiheit denkt, sind das auch Entscheidungen, die für mehrere Jahrzehnte dann buchstäblich in Stein gemeißelt sind.
Hat der Staat den Gedanken bei großen Bauprojekten bereits verinnerlicht?
Degenhardt: Gesetzlich hat Barrierefreiheit bereits genau denselben Stellenwert wie etwa der Brandschutz, und das ist gut so. In der Realität bildet sich das aber nicht immer ab. So wird etwa der neue Berliner Flughafen nicht eröffnet, weil der Brandschutz nicht ausreicht – in der Elbphilharmonie darf man dagegen fleißig über Treppen laufen, die im Sinne der Barrierefreiheit nicht zulässig sind. Und von Barrieren dieser Art sind auch ältere Menschen im Allgemeinen betroffen. Wir sind immer noch dabei, dafür ein Bewusstsein zu schaffen. Die Sanierung des Rathauses ist dagegen ein Beispiel, wie es gehen kann – auch in Verbindung mit dem Denkmalschutz.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
zum Interview: Wie überwinden wir Barrieren?
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