Die großen Fragen des LebensFrage 75: Gibt es heute noch revolutionäre neue Entdeckungen?Auszug aus dem Interview im Hamburger Abendblatt
6. August 2019, von Online-Dienste
Foto: Mark Sandten
Marc Fabian Buck (l.) und Horst Weller: Schriftkultur als Leistung der Kulturgeschichte und Nanotechnologie als modernes Forschungsfeld.
Hamburg. Heureka! Ich hab’s gefunden – so lief einst Archimedes nackt durch Syrakus. In der Badewanne liegend hatte er erkannt, warum Schiffe schwimmen können. Gibt es noch heute so revolutionäre Erkenntnisse? Darüber diskutieren Professor Horst Weller (Chemiker und Fachbereichsleiter, Zentrum für Angewandte Nanotechnologie) und Marc Fabian Buck, Vertretungsprofessor Medienpädagogik/Digitalisierung in der Bildung, beide von der Uni Hamburg.
Was sind für Sie die größten Entdeckungen in der Menschheitsgeschichte?
Horst Weller: Es fing damit an, dass die Menschen Werkzeuge wie Hebel und Rad entdeckt haben. Meilensteine waren sicher auch die Entdeckung der Mathematik oder legendäre Geistesblitze wie das Archimedische Prinzip.
Und die Entdeckung des Feuers.
Weller: Ja, da muss einer gemerkt haben, dass das Fleisch noch besser schmeckt, wenn es gegrillt wird. Später wurde die Gewinnung von Metallen entdeckt, und Galileos Entdeckung der Jupitermonde leitete die Neuzeit ein. Anfang des 20. Jahrhunderts stieß das klassische Weltbild erneut an die Grenzen, was zu Einsteins Relativitätstheorie und der Quantenmechanik führte.
Welche Erkenntnisse würden Sie nennen?
Marc Fabian Buck: Das ist die Schriftkultur! Das ist aus unserer Sicht der bedeutendste Wandel in der Kulturgeschichte. Dazu kommt der Wunsch, die Dinge mit wissenschaftlichen Methoden zu systematisieren. Und natürlich, im Blick auf Europa, die Epoche der Aufklärung: Kinder und Erwachsene werden als autonome Subjekte verstanden.
Wie hat sich das Kind-sein verändert?
Buck: Kindheit wurde als eigenständige Lebensphase erkannt. Dazu kommt das Recht auf Beschulung – und damit das Recht, nicht wie die Erwachsenen arbeiten zu müssen. Heute ist Kindheit sehr reguliert, aber wir sind dadurch besser geworden, auf Kinder aufzupassen – in medizinischer wie in pädagogischer Hinsicht.
Am Anfang jeder Erkenntnis steht eine Idee.
Weller: Ich würde sagen: die kritische Hinterfragung einer Beobachtung, aus der die Idee zur Beantwortung der Frage „Warum ist das so?“ erst erwächst und dann zu neuen Schlussfolgerungen führen kann. Dieser Prozess ist eng mit den technischen Möglichkeiten der Beobachtung verbunden: Ohne Fernrohr kein Galileo und ohne Mikroskopie keine moderne Medizin.
Wie genau können wir denn heute schauen?
Weller: Bis auf die Ebene der Atome und Moleküle. Mit den neuesten Hamburger Maschinen können wir heute filmisch in Echtzeit dokumentieren, wie sich die einzelnen Elektronen und Atome in einem Molekül bewegen. Die schnellsten Prozesse geschehen dabei im milliardsten Teil einer milliardstel Sekunde. Das ist eine Revolution, die derzeit in der Wissenschaft geschieht. Wir lernen, wie sich Atome in einem Kristall anordnen müssen, damit das Material supraleitend wird, also Strom verlustfrei leiten kann oder wie sich Proteinmoleküle falten; einer der Schlüssel zum Verständnis des Lebens.
Gibt es Grenzen der Erkenntnis?
Weller: Sagen wir so: Die Komplexität nimmt zu.
Buck: Aus meiner Sicht ist die Digitalisierung im Sinne einer globalen Vernetzung eine große Triebfeder. Erkenntnisse können nur revolutionär werden, wenn sie überhaupt in der Bevölkerung ankommen und akzeptiert werden.
Was ist für Sie die überraschendste Forschungserkenntnis in der Digitalisierung?
Buck: Ich bin nach wie vor fasziniert von Wikipedia. Es ist ein großartiges Projekt, obwohl es dort auch erkenntnispolitische Streitigkeiten und die ständige Frage nach der Definitionshoheit gibt. Es ermöglicht Milliarden Menschen den Zugang zu Wissen.
Sind Sie selbst aktiv bei Wikipedia?
Buck: Ja, ich schreibe selbst Artikel und ermutige meine Studierenden, das auch zu tun.
Hat sich ihr Forschungsalltag verändert?
Buck: Ich arbeite größtenteils mit Texten. Nach wie vor muss ich studentische Hilfskräfte in die Staatsbibliothek schicken, um mir Texte zu besorgen. Aber vieles bekommt man online. Das hat aber auch Nachteile. Wir merken allerdings über alle Fächer, dass die hohe Produktionsgeschwindigkeit von Texten nicht immer mit einer hohen Qualität einhergeht.
Welche Erfindungen könnte es demnächst durch die Digitalisierung geben?
Buck: Prognosen sind immer schwierig, vor allem, wenn sie sich auf die Zukunft beziehen. Medientechnisch wird die Entwicklung zur Virtuellen und Augmentierten Realität weitergehen, denken wir nur an entsprechende Brillen und Software.
Verschmilzt das Smartphone mit dem Gehirn?
Buck: Ich glaube, das passiert weniger schnell. Irrationale Skepsis gegenüber technologischen Neuerungen sind eine Konstante in der Menschheitsgeschichte, denken wir an die erste deutsche Eisenbahn und die Angst davor, dass diese Schwindel und andere Krankheitserscheinungen erzeugt bei hohen Geschwindigkeiten.
An welchen Projekten arbeiten Sie?
Weller: Wir arbeiten im Bereich der chemischen Nanotechnologie. Hier haben wir Projekte zu den Themen ultrafeste Werkstoffe, Brennstoffzellen, Display und Beleuchtungstechnologie bis hin zu den Lebenswissenschaften und Medizin.
Was machen Sie da genau?
Weller: Wir schauen, welche Eigenschaften biologische Moleküle haben. Das fängt mit der DNA an, in der die Erbinformation gespeichert ist. Sie ist zwei Nanometer breit. Ein Protein, das als Arbeitspferd im Körper gilt, ist ungefähr fünf Nanometer groß. Wir versuchen, diese Prozesse nachzumachen. Wir imitieren die Natur.
Wie Leonardo da Vinci?
Weller: Wenn Sie nur meinen, dass die Natur unser Vorbild ist, dann ja. Ansonsten ist der Vergleich doch reichlich hoch gegriffen. Die Chemie des 20. Jahrhunderts war dadurch bestimmt, dass wir komplizierte Moleküle synthetisiert haben und Regeln dafür gelernt haben. Heute gehen wir den nächsten Schritt: das Zusammenspiel der Moleküle in einer bestimmten geometrischen Anordnung.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
zum Interview: Revolutionäre Entdeckungen? Wikipedia ist eine!
Informationen zu den Wissenschaftlern
Prof. Dr. Horst Weller lehrt seit 1994 als Professor für Physikalische Chemie an der Universität Hamburg. Zugleich ist er Forschungsbereichsleiter am Zentrum für Angewandte Nanotechnologie CAN, das Teil eines Fraunhofer Instituts mit Sitz in Hamburg ist. Am Fraunhofer-Zentrum für Angewandte Nanotechnologie CAN werden anorganische Nanopartikelsysteme entwickelt. Dabei handelt es sich um Teilchen mit Ausdehnungen von nur einigen millionstel Millimetern. Sie werden dispergiert in Lösung erzeugt und für die jeweilige Anwendung optimiert. 1991 erhielt Horst Weller den Nernst-Haber-Bodenstein-Preis der Deutschen Bunsengesellschaft für Physikalische Chemie, 2012 den Julius-Springer-Preis.
Dr. phil. Marc Fabian Buck ist Vertretungsprofessor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Digitalisierung in der Bildung an der Universität Hamburg. Er hat Soziologie und Pädagogik (B.A.) an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel sowie der Erziehungswissenschaft (M.A.) an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert. Buck gehört zu den Kritikern der Reformpädagogik, insbesondere der Waldorf- und Montessori-Pädagogik.
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