Die großen Fragen des LebensFrage 78: Lernt man nie aus?Auszug aus dem Interview im Hamburger Abendblatt
26. August 2019, von Online-Dienste
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Geistig fitte Menschen lassen sich kein „X“ für ein „U“ vormachen. Prof. Anke Grotlüschen und Prof. Dietmar Kuhl, ausgerüstet mit Buchstaben und einem Gehirnmodell.
Hamburg. Der Hinweis fehlt in keinem Karriereratgeber: Wer sich darauf verlässt, dass Schule, Studium, Praktika oder Ausbildung für ein gutes Auskommen im erwählten Beruf bis zur Rente reichen, wird am Ende von seinem Arbeitgeber verlassen. Gerade die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt radikal. Aber wie lange spielt das Gedächtnis mit? Wie ist die Situation im Alter? Gibt es Grenzen? Und vor allem: Kann Lernen am Ende vielleicht sogar glücklich machen? Zwei Experten der Uni Hamburg – Prof. Anke Grotlüschen und Prof. Dietmar Kuhl – geben Auskunft
Frau Prof. Grotlüschen, Herr Prof. Kuhl, gestatten Sie zum Auftakt eine persönliche Frage: Ich bin auf der Zielgeraden meiner beruflichen Laufbahn. Warum sollte ich ein paar Jahre vor der Rente noch lernen?
Prof. Dr. Anke Grotlüschen: Weil sich gerade beim Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand eine Menge Fragen stellen, auf die Sie kaum Antworten aus Ihrem bisher erlernten Repertoire finden werden. Und damit können Sie diesen Schritt nicht wirklich erfolgreich gehen. Studien zeigen, dass genau in dieser Phase viele Menschen wieder beginnen zu lernen. Sie beschäftigen sich zum Beispiel intensiv mit ihrer Gesundheit. An Volkshochschulen ist dieses Thema besonders stark nachgefragt.
Prof. Dr. Dietmar Kuhl: Wir lernen ohnehin das ganze Leben, dies ist oft kein bewusster Prozess. Wir speichern immer wieder neue Informationen in unserem Gedächtnis. Aber gerade wenn sich unsere Lebenssituation verändert, sind wir besonders gefordert zu lernen. Das Gedächtnis ist kein Archiv unserer Vergangenheit. Sondern biologisch haben Lernen und Gedächtnis die Funktion, dass wir uns an geänderte Lebenssituationen neu anpassen können.
Gibt es eine Altersgrenze, ab der es nicht mehr sinnvoll ist, zum Beispiel eine neue Sprache zu erlernen?
Kuhl: Nein, im Gegenteil. Lernen ist notwendig für unser Gehirn. Es gibt ja diesen berühmten Ausspruch „Use it or lose it“. Wir müssen das Gehirn benutzen, damit es gesund bleibt. So bleiben die synaptischen Verbindungen erhalten. Wir können durch den Prozess des Lernens dem völlig normalen Nachlassen des Gedächtnisses entgegenwirken.
Trainieren Kreuzworträtsel das Gehirn?
Kuhl: Nur sehr limitiert, da wir auswendig Gelerntes eintragen. Das ist nicht komplex genug, um das Gehirn wirklich zu fordern. Was allgemein hilft, ist soziale Interaktion. Sich mit Problemen zu beschäftigen und diese zu lösen. Genau dafür ist unser Gehirn trainiert. Übrigens geschieht dies besonders gut, wenn wir uns dabei für eine gute Sache engagieren.
Grotlüschen: Wir unterscheiden zwischen kristalliner und fluider Intelligenz. Kristallin ist alles, was ich abgelagert habe. Dieser Bereich ist im höheren Alter größer als bei einem 15-Jährigen. Das hilft ihm beim Sprachenlernen, der Wortschatz ist einfach größer. Auf der anderen Seite lässt die fluide Intelligenz nach, wenn man sie nicht trainiert. Das ist die Fähigkeit, ein Problem möglichst schnell zu lösen. Daher ist es auch ab 50 so wichtig, sich immer neuen Problemen zu stellen, auch am Computer.
Kuhl: Die Mechanismen für das Langzeitgedächtnis schwächen sich im Alter ab. Für das Langzeitgedächtnis müssen Gene angeschaltet werden. Diese Gene steuern die Herstellung von Proteinen, die für die langzeitige Verstärkung von Synapsen erforderlich sind. Bei Älteren funktioniert das nicht mehr so gut.
Ein Kleinkind lernt spielerisch. Warum verlieren wir diese Fähigkeit in der Schule?
Grotlüschen: Wir möchten ab einem bestimmten Alter unser Leben selbst gestalten. Wir wollen uns nicht mehr danach richten, was die Lehrerin oder der Lehrer verlangen. Da geht es auch um Ablösungsprozesse. Im Erwachsenenalter sieht das nicht anders aus. Wir nehmen uns immer wieder vor, endlich unsere Englischkenntnisse aufzupolieren. Und dann sagen wir die Teilnahme doch wieder ab, weil der Leidensdruck nicht hoch genug ist.
Sieht man eigentlich in einem bildgebenden Verfahren, wie das Gehirn arbeitet?
Kuhl: Wenn man einem Taxifahrer eine Adresse nennt, läuft ein Navigationsprozess in seinem Gehirn ab. Dann können Sie sehen, wie der Hippocampus, die Schaltstelle zwischen dem Kurz- und dem Langzeitgedächtnis, aufleuchtet. Durch das Speichern dieser Informationen verändert sich das Gehirn. Wenn wir drei hier aus diesem Gespräch herausgehen werden, wird unsere jeweilige Hirnstruktur anders sein als zuvor.
Dann sind Navigationssysteme ja eigentlich nicht gut.
Kuhl: Ich will sie nicht verteufeln, ich habe heute auch eines benutzt, um in Ihre Redaktion zu kommen. Aber grundsätzlich gehen solche Systeme zulasten unserer Fähigkeit, sich zu orientieren.
Fast jeder kennt die bittere Erfahrung, dass einem auf einmal der Name eines Gesprächspartners nicht mehr einfällt. Muss man sich deshalb Sorgen machen?
Kuhl: Nein, das passiert mir auch. Ich stehe vor dem Geldautomaten, und mir fällt die Geheimnummer nicht ein. Dann verlasse ich die Bank, und die Erinnerung kommt zurück. Wir haben manchmal keinen Zugang zu bestimmten Gedächtnisspuren, da würde ich mir noch keine Gedanken machen. Das ist noch kein Zeichen von Alzheimer. Anders sieht es aus, wenn man nicht mehr weiß, was ein Geldautomat überhaupt ist.
Sie haben mit Ihrem Team beim UKE ein Gedächtnisgen bei Mäusen entdeckt.
Kuhl: Wir haben herausgefunden, dass ein bestimmtes Gen bei Mäusen für die Speicherung von Langzeitinformationen eine große Rolle spielt. Schaltet man es vor dem 21. Lebenstag molekularbiologisch aus, entwickeln sich die Tiere körperlich normal, sind aber in ihrem räumlichen Lernen stark beeinträchtigt. Schaltet man es später aus, können sie zwar noch normal lernen, das Erlernte aber nicht mehr im Gedächtnis behalten.
Was bedeuten diese Forschungsergebnisse für den Menschen?
Kuhl: Das Gehirn von Maus und Mensch ist ähnlich aufgebaut. Da die Gene der Maus unseren sehr ähnlich sind, lassen sich die Ergebnisse weitgehend übertragen. Übertragen auf die menschliche Entwicklung bedeutet das Versuchsergebnis, dass das Gen in den ersten vier Lebensjahren aktiviert werden muss. Sonst ist komplexes Lernen im Erwachsenenalter stark beeinträchtigt.
Welchen Nutzen kann die Medizin aus Ihrer Forschung ziehen?
Kuhl: Wir haben Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen diesem Gen und Erkrankungen wie Alzheimer, Autismus und Schizophrenie. Wenn wir die Funktion dieses Gens besser kennen, wird es möglich sein, gezielt in diese schrecklichen Erkrankungen einzugreifen.
Frau Prof. Grotlüschen, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit der Situation von Analphabeten. Ist das wirklich noch ein Problem in Deutschland?
Grotlüschen: Wir denken ja immer, dass wir das Land der Dichter und Denker sind. Wir stehen aber bei den Erwachsenen, die Texte nicht sinnentnehmend lesen können und sie auch nicht sinnproduzierend schreiben können, im unteren Drittel der OECD-Länder. Der OECD-Schnitt liegt bei 15 Prozent, in Deutschland zwischen 17 und 18 Prozent. 6,2 Millionen Erwachsene können also so wenig lesen und schreiben, dass sie nicht allein durchs Leben kommen.
Aber es gibt doch die Schulpflicht?
Grotlüschen: Ja, wie kann das dennoch passieren? Das fragen wir uns auch. Denn 76 Prozent dieser Erwachsenen haben einen Schulabschluss, was darauf hindeutet, dass sie diesen Abschluss mit sehr viel Mühe und Unterstützung erreicht haben. Wir gehen davon aus, dass diese Kompetenzen dann nicht benutzt wurden und nach und nach verkümmerten. Längsschnittstudien zeigen, dass Leute, die zwei Jahre keine Anforderungen im Lesen und Schreiben hatten, diese Fähigkeiten verlieren.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
zum Interview: Lernt man nie aus?
Anke Grotlüschen, Professorin für Lebenslanges Lernen, lehrt seit 2008 im Fachbereich Erziehungswissenschaft der Uni Hamburg. Zuvor war sie in Bremen am Institut für Erwachsenen-Bildungsforschung tätig. Grotlüschen ist Sprecherin des wissenschaftlichen Beirats der Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung und leitet die Level-One Studie zu geringer Lesekompetenz bei Erwachsenen.
Dietmar Kuhl, Professor für Neurowissenschaften, leitet das Institut für Molekulare und Zelluläre Kognition im Zentrum für Molekulare Neurobiologie am UKE. In den 1980er- und 1990er-Jahren forschte er an der Columbia Universität in New York im Labor des Nobelpreisträgers Eric Kandel. Bevor er nach Hamburg kam, hatte er den Lehrstuhl für Biochemie und Neurobiologie an der Freien Universität in Berlin inne. Kürzlich wurden Kuhl und Dr. Ora Ohana für ihre bahnbrechenden Arbeiten zu Lernen und Gedächtnis mit einem Forschungspreis von 1,3 Millionen Euro von der Schaller-Nikolich-Stiftung ausgezeichnet.
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