
Die großen Fragen des LebensFrage 82: Ist unsere Demokratie in Gefahr?Auszug aus dem Interview im Hamburger Abendblatt
1. Oktober 2019, von Digitale Kommunikation und Design

Foto: Mark Sandten / Funke Foto Services
Demokratie-Experten: Professor Tilman Grammes und Professor Kai-Uwe Schnapp.
Hamburg. In den USA twittert Präsident Donald Trump jeden nieder, der sich ihm in den Weg stellt. In Brasilien regiert mit Jair Bolsonaro ein Präsident, der die Zeit der Militärjunta verklärt. In England bootet Premier Boris Johnson das Parlament aus, um den Brexit zu erreichen. Und in Thüringen könnte AfD-Rechtsaußen Björn Höcke am 27. Oktober laut Umfragen 25 Prozent erreichen. Zeit für ein Experten-Gespräch über die Demokratie mit den Professoren Kai-Uwe Schnapp und Tilman Grammes von der Universität Hamburg.
Laut einer Umfrage des Forschungsinstituts YouGov sehen 53 Prozent der Bundesbürger die Demokratie in Gefahr. Wie groß ist Ihre Sorge?
Prof. Kai-Uwe Schnapp: Die Demokratie ist herausgefordert, aber nicht in Gefahr. Wir sind von den Institutionen her sehr gut aufgestellt. Wir haben noch immer relativ starke, große Parteien. Natürlich gibt es die Herausforderung durch eine Partei wie die AfD und durch den Populismus. Aber die Unterstützung für die Demokratie ist extrem groß, je nach Umfrage zwischen 85 bis 95 Prozent. Die Zufriedenheit mit der Demokratie, wie sie im Moment im Lande praktiziert wird, geht allerdings ein Stück weit zurück. Da kennt die Politikwissenschaft den Begriff des unzufriedenen Demokraten. Das sind Leute mit demokratischen Grundhaltungen, die aber sagen, so wie es im Moment läuft, gefällt es mir nicht. Darunter sind viele Wähler der AfD, dennoch bekennen sich auch von ihnen viele zur Demokratie.
Prof. Tilman Grammes: Als Bürger schätze ich das ganz ähnlich ein. Als Erziehungswissenschaftler und Didaktiker ergibt sich jedoch eine andere Perspektive auf einen solchen demoskopischen Befund. Aus Sicht der Didaktik ist Demokratie immer in Gefahr. Sie ist nicht in der DNA unserer Babys angelegt. Kinder werden nicht als Demokraten geboren. Die Schule muss daran arbeiten, demokratische Kompetenzen zu vermitteln. Dabei geht es keineswegs nur um den Politik- oder Geschichtsunterricht. Auch in Fächern wie Deutsch, wie Geografie, wie Ethik oder Religion muss Demokratie Teil der Bildung sein.
Schnapp: Und es geht auch darum, wie Schüler die Schule erleben. Wird in den Schulen diskutiert? Werden Dinge gemeinsam erarbeitet? Ich würde zwar nicht von einer unmittelbaren Gefahr für die Demokratie sprechen. Aber sie ist nicht selbstverständlich, sie muss immer wieder neu erstritten werden, um sie von Generation zu Generation weiterzugeben. Übrigens zeigt eine Studie aus Leipzig, dass die Erziehung eine wichtige Rolle spielt. Strafarmut und emotionale
Nähe in der Erziehung tragen dazu bei, dass sich demokratische Haltungen entwickeln. Kinder, die in einem autoritären Elternhaus aufwachsen, wo Vater und Mutter alles bestimmen, entwickeln oft auch selbst autoritäre Haltungen.
Sollten Schulen für Demokratie begeistern?
Grammes: Begeistern ist ein schönes und richtiges Wort an dieser Stelle. Ja, Schule muss auf möglichst attraktive Weise zeigen, dass unsere Verfassung gut ist und zur engagierten Teilhabe einlädt. Mit spannenden Projekten wie der Juniorwahl. Hier haben Schüler die Möglichkeit, unmittelbar vor der regulären Wahl realitätsnahe Stimmzettel auszufüllen. Bei der Europawahl 2019 haben etwa 2760 Schulen in Deutschland mitgemacht. Dazu gehört an vielen Schulen auch, dass Politiker eingeladen werden.
Viele Hamburger Schüler dürfen ja inzwischen auch regulär wählen. 2013 wurde das Wahlalter für Bezirks- und Bürgerschaftswahlen auf 16 abgesenkt.
Schnapp: Eine gute Entscheidung. Wir wissen aus Studien, dass die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre dazu beiträgt, dass die Wahlbeteiligung steigt. Fast alle 16-Jährigen sind über Schulen noch erreichbar für die politische Bildung, und können so auch für die Wahl begeistert werden. Und die meisten Jugendlichen gehen sehr verantwortungsvoll mit ihrem Wahlrecht um, schätzen ihre eigenen politischen Fähigkeiten sehr kritisch ein. Zudem gilt: Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der schon einmal gewählt hat, wieder zur Wahl geht, ist sehr hoch. Früh fürs Wählen begeistert zu werden, fördert dauerhaft die Wahlbeteiligung.
Sollte der Unterricht auch vor Ort in Bezirksversammlungen oder in der Bürgerschaft stattfinden?
Schnapp: Unbedingt, es ist wichtig, dass Schüler begreifen, wie hart in der Politik um Positionen gerungen wird, wie kleinteilig diese Arbeit ist. Die Schüler lernen dann eher, dass man in einer Demokratie mit 80 Millionen Menschen, die alle unterschiedliche Interessen haben, Kompromisse finden muss. Demokratie heißt eben nicht, ich kriege was ich will. Demokratie heißt, ich werde gefragt, und dann gibt’s eine Lösung, die möglichst viele Positionen berücksichtigt.
Muss die Demokratie es auch aushalten, wenn Lehrer, die sich klar zur AfD bekennen, Politik oder Geschichte unterrichten?
Grammes: Ich wünsche es mir nicht. Aber die AfD ist eine zugelassene Partei, daher wird man dort juristisch wenig ausrichten können. Aber die Grenze ist dort gesetzt, wo sich Lehrer zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit bekennen, ob in der Programmatik oder in der Darstellung einer Partei. Da muss der Dienstherr sofort einschreiten.
Schnapp: Ich bin immer ein Gegner von Berufsverboten gewesen. Auch DKP-Mitglieder nicht unterrichten zu lassen, fand ich schwierig. Es entspricht zwar nicht meinem Idealbild, wenn ein AfD-Mitglied ein Fach wie Politik unterrichtet. Aber wenn Verfassungsparagrafen im Unterricht nicht angegriffen werden, dann wird man das in einer Demokratie ertragen müssen. Genau wie wir es ertragen müssen, dass AfD-Politiker wichtige Ämter in Parlamenten wahrnehmen.
Viele Bundestagsmitglieder sehen das anders. Die AfD scheitert bei den Wahlen immer wieder mit Kandidaten für das Amt des Bundestagsvizepräsidenten.
Schnapp: Ich halte das für einen Fehler. Die AfD ist von einem großen Teil der Bevölkerung gewählt worden, sie muss diesen Sitz kriegen, das muss eine Demokratie gebacken kriegen.
Viele Abgeordnete halten dagegen, sie möchten sich nicht bei einer Rede im Bundestag von einem AfD-Politiker zur Ordnung rufen lassen.
Schnapp: Ich kann das als Einzelmeinung respektieren, aber nicht für die Gesamtheit des Bundestages. Man kann die Wähler der AfD nicht die ganze Zeit vor den Kopf stoßen und hoffen, dass sie auf diese Weise wieder in die politische Mitte zurückkehren.
Nicht nur in Hamburg gibt es große Diskussionen um das von der AfD eingerichtete Portal, in dem Eltern oder Schüler Lehrer melden können, falls sie im Unterricht gegen das Neutralitätsgebot verstoßen sollten.
Grammes: Der Bildungsauftrag im Hamburger Schulgesetz ist nicht neutral, sondern fordert aktiv an der Gestaltung einer der Humanität verpflichteten demokratischen Gesellschaft mitzuwirken. Die Zeiten des Mittelalters, wo jemand an den Pranger gestellt wurde, sollten doch vorbei sein. Es kann nicht sein, dass jemand anonym beschuldigt wird, ohne sich dazu äußern zu können.
Andererseits gilt das Neutralitätsgebot an der Schule.
Grammes: Dienstrechtlich meint Neutralität etwas Anderes. Um strittige Fälle zu klären, gibt es die vorgeschriebenen Wege durch schulische Gremien und im Verwaltungsrecht. Und eben nicht einen Pranger. In Mecklenburg-Vorpommern hat der Datenschutzbeauftragte nun gehandelt. Dort muss die AfD dieses Portal von ihrer Homepage entfernen. Es ist gut, dass unser Schulsenator Ties Rabe den Hamburger Datenschutzbeauftragten Johannes Caspar gebeten hat, auch diesen Schritt zu vollziehen.
Schnapp: In einem Rechtsstaat kann diese Form der Verdachtskultur nicht hingenommen werden.
Grammes: Unabhängig von der AfD heizen wir eine solche Entwicklung aber auch an. In der Schule liegt die Rückmeldekultur im Trend. Ich sehe keine Unterrichtsstunde mehr, wo nicht am Ende Schüler die Stunde beurteilen. Dieses Liken oder Disliken, dieses Daumen runter oder Daumen hoch, mag vielleicht dem Zeitgeist der sozialen Medien entsprechen. Aber wenn ich einen Tag Schulsenator wäre, wäre die erste Regel, die ich einführen würde: Es muss mindestens einen Tag Pause sein, damit ein Nachdenken überhaupt erst möglich wird.
Schnapp: Wir sollten uns alle vornehmen zu lernen, wie wir uns besser mit Leuten auseinandersetzen, deren Argumente uns nicht gefallen. Da geht es nicht nur um die Auseinandersetzung der demokratischen Mitte mit den demokratischen Rändern. Diese Entwicklung ist etwa auch bei der Diskussion um die SUVs im Straßenverkehr zu beobachten. Wir gehen mit gesenkten Hörnern aufeinander los, und dann lassen wir es krachen, anstatt zu versuchen auch zu verstehen, warum der andere diese Position hat.
Gefährdet auch dies die Demokratie?
Schnapp: Absolut. Wenn wir über Gefahren für die Demokratie reden, dann am ehesten dort, wo man die Keule schwingt und sagt: Ich weiß, wie es richtig geht. In einer Demokratie muss man aber zusehen, innerhalb des Rahmens, den die Verfassung setzt, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.
Grammes: Mit sozialen Medien ist auch der Aufmerksamkeitsdruck gestiegen. Wer sich besonders scharf positioniert, hat die größte Chance, dass er gehört wird. Damit steigt wie bei der SUV-Debatte die Gefahr, dass moralisiert wird.
Was kann Bildung dagegen tun?
Grammes: Wir müssen lehren, dass wir möglichst keine simplen Pro- und Kontra-Debatten führen. Wir müssen das Schwarz-Weiß-Denken aufbrechen. Es gibt zu jeder Frage mindestens drei, besser fünf Positionen. Wie den Kompromiss, wie den Dritten Weg, bis hin zu der Position, dass die Frage überhaupt falsch gestellt ist.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
zum Interview: Ist unsere Demokratie in Gefahr?
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