
Die großen Fragen des LebensFrage 85: Brauchen Menschen Kultur?Auszug aus dem Interview im Hamburger Abendblatt
21. Oktober 2019, von Digitale Kommunikation und Design

Foto: Mark Sandten / Funke Foto Services
Am Anfang war das Feuer: Dr. Lina Franken (re.) und Prof. Dr. Birgit Recki (li.) von der Universität Hamburg diskutieren, ob es ein Leben ohne die schönen Künste gibt.
Hamburg. Kultur ist ein Bonus. Hauptsache, wir haben alle ein Dach über dem Kopf und genug zu essen, so eine gelegentlich vertretene Meinung. Warum sich das eine nicht vom anderen trennen lässt, erklären im Expertengespräch Philosophie-Professorin Birgit Recki und Dr. Lina Franken (Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie) von der Universität Hamburg. Auch die Elbphilharmonie, freier Museumseintritt und die Frage, ob Schöngeistiges glücklich macht, sind Thema
Hamburger Abendblatt: Was ist unter dem ja etwas vagen Begriff „Kultur“ aus Ihrer Sicht zu verstehen?
Lina Franken: Kultur ist etwas, wodurch Menschen sich ihrem Umfeld verständlich machen, mit dem wir Sinnhaftigkeit konstruieren, uns die Welt erschließen. Damit ist Kultur immer etwas von Menschen Geschaffenes, das in historischen und größeren gesellschaftlichen Settings stets neu ausgehandelt wird. Kurz gesagt: Kultur ist alles, was Interaktion zwischen Menschen ermöglicht.
Birgit Recki: In genau dem Sinn legen wir auch in der Philosophie Wert darauf, den Begriff der Kultur weit zu fassen. Es geht nicht nur um das Schöngeistige und Intellektuelle, das, womit sich das Feuilleton einer Zeitung beschäftigt. Aus der Perspektive der Kulturphilosophie ist Kultur alles, was Menschen aus sich und den vorgefundenen Verhältnissen machen, die gesamte menschliche Welt, sofern sie auf Aktivitäten und Leistungen des Menschen zurückgeht. Wer die Frage stellt, ob Menschen Kultur brauchen, muss sich also vergegenwärtigen, dass dieser Kulturbegriff alles umfasst. In diesem Sinne ist eine menschliche Welt ohne Kultur unmöglich.
Lina Franken: Die Aussage, dass alles Kultur ist, mag bisweilen banal erscheinen, aber spannend wird es dann, wenn wir nach den Bedeutungen fragen. Warum handeln Menschen so, wie sie handeln? Warum gestalten sie ihren Alltag so, wie sie ihn gestalten? Das sind die Fragen, die bei der Kulturanthropologie im Mittelpunkt stehen, wir fragen nach den Kontexten von alltäglichen Handlungen und Symbolen.
Können Sie ein konkretes Beispiel geben?
Lina Franken: Nehmen Sie das Thema Wohnen. Wir sprechen derzeit unter anderem über das Recht auf Wohnraum oder über den Mietendeckel, da findet gerade eine gesellschaftliche Aushandlung statt. Wir Menschen müssen nicht nur wohnen, uns also durch eine Behausung schützen, sondern Menschen gestalten ihren Wohnraum je einzigartig. Wenn man in die Wohnungen hineinschaut, sieht man: Das ist im höchsten Maße kulturell geprägt, nicht nur in dem Sinne, welche Musik im Wohnzimmer läuft oder welche Bilder an den Wänden hängen. Schon ein Sofa oder Tisch kann ein kulturelles Statement sein, deren Anordnung im Raum etwa. Es gibt da keine klare Grenze zwischen den Kulturbegriffen.
Birgit Recki: Kultur braucht der Mensch, um sich artgerecht am Leben zu erhalten. Und es gibt ein Kontinuum zwischen den elementaren und den verfeinerten oder „hochgeistigen“ Bedürfnissen. Ich würde unter dem Aspekt der menschlichen Lebensgestaltung keine Trennlinie ziehen zwischen Essen, Schlafen, Wohnen auf der einen und künstlerischen Ausdrucksformen auf der anderen Seite.
Lina Franken: Sobald die elementaren Bedürfnisse befriedigt sind, entscheide ich selbst, welcher kulturellen Ausdrucksform ich folge – zumindest in freien Gesellschaften und mit genügend finanziellen Mitteln. Und dann kommt natürlich auch das Moment der Produktion ins Spiel, denn wir konsumieren Kultur ja nicht nur, wir produzieren sie auch selbst, wir gehen damit kreativ um.
Birgit Recki: Wie gesagt: Die Kultur ist unausweichlich und unabdingbar, wir sind nichts ohne Kultur. Der Punkt, an dem der Mensch schon da ist, die Kultur aber noch nicht, ist ein theoretischer Nullpunkt. Man kann ihn begrifflich konstruieren, aber nachweisen kann man ihn nicht. An den Fundstellen des Feuers aus der Zeit von vor bis zu 1,7 Millionen Jahren zeigt sich zum ersten Mal der Mensch als kulturelles Wesen. Und ohne Kultur wären wir keine Menschen. Erinnern möchte ich in diesem Zusammenhang an den Philosophen Ernst Cassirer.
Was ist sein Beitrag zu diesem Thema?
Birgit Recki: Cassirer, dessen Gesamtausgabe in 25 Bänden wir hier in Hamburg zwischen 1997 und 2007 herausgegeben haben, gehörte 1919 bei der Gründung der Universität Hamburg zu den erstberufenen Ordinarien. Er hat eine Philosophie der Kultur entwickelt, seine „Philosophie der symbolischen Formen“: Der Mensch ist ein symbolisches – Symbole erzeugendes und Symbole verstehendes – Lebewesen. Demnach gibt es keine bedeutungsfreien Zonen: Schon wenn wir sprechen, wenn wir Laute mit Bedeutungen verknüpfen, ist das symbolische Gestaltungsaktivität.
Lina Franken: Da stimme ich zu – und das von Frau Recki erwähnte Feuer passt ja gut zu meinem Beispiel des Wohnens, dem Bedürfnis nach Wärme. Allerdings gibt es nicht die eine Kultur, und wenn wir nach allgemeinen Merkmalen suchen, wird es schnell stereotyp und damit gefährlich. Dann gibt es Inklusion durch Exklusion: Wir bilden Gemeinschaft, indem wir andere als nicht zugehörig erklären. Menschen sind immer mehreren Gruppen zugehörig, Kultur hat immer vielfältige Facetten.
Wenden wir uns einmal dem engeren Kulturbegriff zu: Ist ein Leben zum Beispiel ohne Musik und Theater, ohne Literatur und Film möglich?
Birgit Recki: Nicht für uns Menschen! Die Bedürfnisse, die da zum Ausdruck kommen, sind ebenso wichtig wie die elementaren Bedürfnisse – also etwa essen und schlafen. Es wäre kein menschliches Leben, wenn wir auf die Erfüllung der absolut existenziellen „Grundbedürfnisse“ beschränkt wären. In dem Fall würden ganze Dimensionen menschlicher Lebensentfaltung ausfallen. Hier kann man auch auf die empirische Erfahrung verweisen: Die Menschen legen Wert auf Musik, Theater, Film, Literatur, Mode, Sport: Es ist Zeichen einer großen Unempfindlichkeit zu behaupten, darauf könnte man verzichten und sich auf das „Wesentliche“ konzentrieren.
Wenn in der Schule mal der Kunst- oder Musikunterricht ausfällt, gilt das vielen als nicht so schlimm. Hauptsache der Mathematik- oder Englischunterricht findet statt. Warum ist das so?
Lina Franken: Die Schule prägt Kultur und ist durch Kultur geprägt. Es ist eine gesellschaftliche Setzung, dass wir Mathematik oder Englisch höher bewerten als Kunst und Musik. Das war ja nicht immer so: Die sogenannten schönen Künste hatten im Kanon der klassischen bürgerlichen Bildung mal einen viel höheren Stellenwert als heute. Aber die von Ihnen beobachtete Setzung wird tatsächlich immer stärker, weil wir ein leistungsorientiertes Bildungssystem haben, in dem es vor allem um Messbarkeit geht. Nun ist der Musikunterricht erheblich schlechter quantifizierbar als der Mathematikunterricht. Zudem geraten die Schulen immer mehr unter Druck, weil erwartet wird, dass sie beispielsweise für gute Pisa-Ergebnisse sorgen. Eine verkürzte Schulzeit verschärft die Situation zusätzlich.
Birgit Recki: Interessant wird es für viele realitätstüchtige Menschen dann, wenn die Gagen einer Primadonna, eines berühmten Dirigenten oder der Auktionswert von zeitgenössischen Kunstwerken zum Thema werden. Dann wird die brotlose Kunst plötzlich mit anderen Augen angesehen – mit Respekt. Da könnte man ja ansetzen ...
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
zum Interview: Brauchen Menschen Kultur?
Birgit Recki arbeitet seit 1997 als Professorin für Philosophie an der Uni Hamburg, seit 2014 auch als Mit-Direktorin des Warburg-Hauses. Von 1997 bis 2009 leitete sie die Ernst-Cassirer-Arbeitsstelle. Gegenwärtig beschäftigt sich die Kant-Kennerin mit dem Thema „Technik als Form der Freiheit“.
Dr. Lina Franken ist seit 2018 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie der Uni Hamburg. Sie promovierte 2017 an der Uni Regensburg zum Thema „Kulturen des Lehrens. Akteure, Praxen und Ordnungen in der Schulbildung“. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Bildungskulturen und -politik, Immaterielles Kulturerbe sowie Arbeits- und Nahrungskulturen.
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