
Die großen Fragen des LebensFrage 86: Werden wir immer mobiler?Auszug aus dem Interview im Hamburger Abendblatt
28. Oktober 2019, von Digitale Kommunikation und Design

Foto: Mark Sandten / Funke Foto Services
100 Fragen: Werden wir immer mobiler? Mit Prof. Dr. Katharina Manderscheid und Dr. habil. Christoph Haferburg.
Hamburg. Er ist mit dem Klapprad gekommen, sie hat ein Rollköfferchen dabei, um im Anschluss an unser Gespräch einen Zug nach Freiburg zu nehmen. Dr. Christoph Haferburg und Prof. Dr. Katharina Manderscheid sind so mobil, wie man es von Mitarbeitern einer Universität kennt. Beide sind häufig umgezogen, immer dem Job hinterher. Mobilität und Verkehr sind eng miteinander verknüpft, aber auch Flexibilität und Erreichbarkeit spielen eine Rolle. Die Wissenschaftler lehnen beide WhatsApp ab, wissen aber nicht, wie lange sie diese Abstinenz noch durchhalten können, ohne sozial ins Abseits zu geraten.
Hamburger Abendblatt: Der Mensch an sich ist immer schon mobil gewesen, er war nur auf eine Infrastruktur angewiesen. Mit der neuen Technologie kann er nun unterwegs alles tun, was er vorher ortsgebunden machen musste, zum Beispiel Lebensmittel einkaufen, Bankgeschäfte tätigen, Geschenke besorgen usw. Eine Befreiung?
Prof. Katharina Manderscheid: Es führt sicher auch zu einer Verdichtung der Zeit, „leere“ Zeiten, in denen man einfach nichts tun kann, verschwinden. Manche Tätigkeiten werden aber für immer ortsgebunden bleiben – Kochen, Schlafen, der Bereich der Care-Arbeit … das wird nie im Internet aufgehen. Und wenn Sie mal in Mecklenburg unterwegs waren, wo das Mobilfunknetz sehr dünn ist, merken Sie, dass auch unsere tragbaren Kommunikationstechnologien auf ortsgebundene Infrastrukturen angewiesen sind. Man braucht fixe Infrastrukturen wie Mobilfunkmasten, Serverfarmen, Lagerhäuser, Verkehrswege, vor Ort arbeitende und ausliefernde Menschen und Fahrzeuge. Andererseits führt Onlineshopping zu einer Reduktion der Infrastrukturen vor Ort – kleine Läden können mit den großen Internetkonzernen nicht mithalten. Das heißt, hier verschieben sich Abhängigkeiten von Angeboten und Infrastrukturen vom analogen in den digitalen Raum.
In welchen Bereichen sind wir viel mobiler als früher?
Manderscheid: Im Bereich Tagesdistanzen: Im Durchschnitt legt heute jede Person in Deutschland täglich 39 Kilometer zurück. Die zurückgelegten Distanzen steigen mit dem Einkommen und sind im Alter niedriger als während der Berufstätigkeit. Und im Bereich der Flugreisen: 30 Prozent der Personen in Deutschland fliegen mindestens einmal im Jahr. Auch hier steigen die Zahlen kontinuierlich. Allerdings nimmt die Mobilität aus der eigenen Blase, die Möglichkeit, sich nicht nur geografisch, sondern auch sozial von einem Ort zu entfernen, ab. Man hat alle sozialen Kontakte ständig dabei, hat Informationen ständig verfügbar und kann an vielen Orten die gewohnten Dinge einfach bestellen, sofern man das ökonomische Kapital hat.
Dr. Christoph Haferburg: Die ökonomische Globalisierung hat die Standortbindung von Produktion, Finanzierung und Konsum jedenfalls deutlich dynamisiert. In der Konsequenz mussten viele Arbeitskräfte mobiler werden – und aktuell zeigt die Initiative des Gesundheitsministers, Pflegekräfte aus anderen Ländern anzuwerben, dass diese Dynamik zumindest kurzfristig weiter fortgeschrieben wird.
Es gibt aber auch Grenzen unserer digitalen Mobilität. Ich kann nicht digital essen beispielsweise.
Haferburg: Gesellschaftliche Teilhabe kann unterschiedlich organisiert werden – aber solange Menschen biologische Wesen bleiben, werden direkte Sozialkontakte eine zentrale Rolle spielen.
Manderscheid: Auch für alle Formen der sozialen Beziehungen scheinen zumindest gelegentliche physische Treffen notwendig zu sein, um die Bindung aufrechtzuerhalten. Auch Care-Arbeit lässt sich nicht vollständig digitalisieren – in diesem Bereich ist physische Kopräsenz von Menschen wesentlich.
Wer online ist, kann sich vernetzen. Bedeutet es im Umkehrschluss: Ohne Mobilität keine gesellschaftliche Teilhabe?
Manderscheid: Das stimmt sowohl für physische als auch für digitale Mobilität. Für die Jüngeren bedeutet ab einem bestimmten Alter ein Smartphone die Teilhabe an sozialer Interaktion. Internet und Handy bedeuten soziale Erreichbarkeit, das Festnetztelefon hingegen verliert immer mehr an Bedeutung.
Inwiefern hängen Mobilität und Identität zusammen?
Manderscheid: Verkehrsmittel wie das Auto sind wichtige Distinktionsmerkmale. Auch bewusst kein Auto zu haben, ist ein Distinktionsmerkmal und damit verbunden mit Identität. Aber auch Reisen markieren gesellschaftliche Unterschiede – es lässt Rückschlüsse auf die soziale Position zu, ob man eine Kreuzfahrt unternimmt, mit dem Fahrrad die Alpen quert, mit dem Rucksack durch Indien reist oder nach Mallorca zum Ballermann fliegt. Und tendenziell trifft man dann auf seines- bzw. ihresgleichen auf diesen Reisen. Soziale Netzwerke als Produkt von virtueller Mobilität stellen für viele ein wichtiges Selbstdarstellungsmedium dar.
Bewegen wir, oder werden wir bewegt?
Haferburg: Manche bewegen mehr als andere, viele werden bewegt – aber wenn sich viele in eine neue Richtung bewegen, werden manche auch dazu bewegt werden, die sich heute noch nicht so bewegen.
Manderscheid: Unsere Bewegungen sind vorgegeben durch gebahnte Wege – seien es im Verkehr die Straßen und Fußwege – oder im Internet die verfügbaren Verbindungen und Angebote. Innerhalb dieser vorgegebenen Bahnen haben wir aber durchaus Spielräume und immer auch die Möglichkeit, uns nicht zu bewegen. Die Fahrzeugtechnologie übernimmt immer mehr Kontrolle darüber, wie wir uns bewegen, etwa über Assistenzsysteme.
Bei einem Auto handelt es sich um mehr als nur um ein Verkehrsmittel, es ist ein fundamentaler Bestandteil der modernen Gesellschaft.
Haferburg: Naheliegend wäre es, hier Parallelen zur veränderten Medienwelt zu sehen: das Auto mit Verbrennungsmotor kann schon bald so antiquiert wirken wie Videokassetten oder Schallplatten, auch wenn es ähnlich wie bei der Vinylplatte eine Nische für Liebhaber geben mag. Die Zukunft ist dann aber nicht der programmierbare Videorekorder, um im Bild zu bleiben, sondern ein Systemwechsel.
Manderscheid: Schon die gebaute Form unserer Gesellschaft – Siedlungsstrukturen, Landschaften – sind auf das Auto ausgerichtet. Die Organisation des Alltags, des Erwerbslebens und der Freizeit, setzt in vielen Bereichen gerade außerhalb der Städte ein Auto voraus. Führerscheinerwerb stellt auf dem Land immer noch den Eintritt ins Erwachsenenleben dar. Bei Jugendlichen in den Städten spielen ein eigenes Auto und der Führerschein eine abnehmende Rolle.
Ist unsere Zukunft selbstfahrend? Und können autonomes Fahren und Carsharing wirklich eine Antwort auf unsere Verkehrsprobleme sein?
Manderscheid: Entscheidend wird sein, ob es sich um private Autos oder kollektive Autos handelt, etwa als Taxidienstleistungen. Wenn private Autos autonom fahren, würde das zudem die Gefahr bergen, dass der Verkehr noch zunimmt: Autos fahren alleine, um jemanden abzuholen, einen Parkplatz zu suchen. Mein Auto könnte ich ja einfach hier um den Block fahren lassen, während wir hier im Verlag sprechen. Dann wäre das eine Verschärfung des Verkehrsproblems. Hingegen könnte Car-sharing die privaten Autos ersetzen, die Zahl der Autos verringern. Tatsächlich ersetzt heute eine Carsharing-Mitgliedschaft häufig nur das Zweitauto, nicht aber den Autobesitz überhaupt.
Selbstfahrende Autos waren früher Teil von Utopien – kommen wir unserer Zukunft immer näher?
Manderscheid: Das Versprechen, dass Autos selbstfahrend werden, ist fast so alt wie das Auto selbst, und immer heißt es, dass selbstfahrende Autos in etwa 20 Jahren kommen. Jetzt hat sich die Zeitspanne verkürzt auf 10 bis 15 Jahre. Ich denke, dass immer mehr Teile des Fahrens automatisiert werden, dass aber die vollkommen selbstfahrende Zukunft so schnell nicht kommt.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
zum Interview: Werden wir immer mobiler?
Prof. Dr. Katharina Manderscheid ist Soziologin und forscht und lehrt zu Lebensführung, Nachhaltigkeit, räumlicher Mobilität und Verkehr am Fachbereich Sozialökonomie der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Ihr besonderes Interesse gilt dabei Aspekten der sozialen Ungleichheit sowie der zukünftigen Entwicklungen.
Dr. habil. Christoph Haferburg befasst sich als Geograf und Stadtforscher mit sozialer und räumlicher Differenzierung, nachhaltiger Mobilität und urbanen Transformationen im globalen Norden und Süden. Aktuell beantragt sind zwei Forschungsprojekte zu innovativer Mobilitätssteuerung in Hamburg und Berlin. An der Uni Hamburg vertritt er seit 2018 die Professur für Sozial- und Wirtschaftsgeografie/Sozioökonomie des Raumes.
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