
Die großen Fragen des LebensFrage 88: Was macht Musik mit uns?Auszug aus dem Interview im Hamburger Abendblatt
12. November 2019, von Digitale Kommunikation und Design

Foto: Sebastian Becht / Funke Foto Services
Dr. habil. Kai Stefan Lothwesen hat das legendäre Woodstock-Album zum Fototermin mitgebracht, Univ.-Prof. Dr. med. Eike Sebastian Debus das Kunststoffmodell einer Hauptschlagader mit Aneurysma sowie eine Hybridprothese.
Hamburg. An Experten-Meinungen zu Musik herrscht kein Mangel, auch ihre kulturelle Wichtigkeit steht seit Jahrhunderten außer Zweifel. „Ohne Musik“, fand der Philosoph Nietzsche, „wäre das Leben ein Irrtum.“ Musik kann mit wenigen Tönen verdellte Herzen kitten und Menschenmassen aufpeitschen. Auf die Frage nach ihrer Bedeutung antwortete Leonard Bernstein: „Die liegt in der Musik selbst und sonst nirgends.“ Beim Gespräch mit dem Musikwissenschaftler Dr. habil. Kai Stefan Lothwesen und dem Gefäßchirurgen Univ.-Prof. Dr. med. Eike Sebastian Debus wurde klar, wie viel bei diesem Thema mitklingt und nachhallen kann.
Hamburger Abendblatt: Welche Bedeutung hat für Sie beide, vor allem beruflich, Musik? Und wie sehen die Auswirkungen aus?
Kai Stefan Lothwesen: Bedeutung ist ja nicht einfach so da, die wird konstruiert, indem wir mit Dingen oder Sachen umgehen. Wir erforschen unterschiedliche Bedeutungen und fragen: Was machen Menschen mit Musik und was macht sie mit ihnen? Psychologisch, physiologisch, soziologisch, historisch, pädagogisch, künstlerisch, aber auch ökonomisch. Neulich auf einem Stadtteilfest traten zwei junge Rapper auf, und ein älterer Herr tobte: Das ist doch keine Musik, das kann ja jeder! Die Aussage „Das ist keine Musik!“, die kann jeder treffen, die ist ganz subjektiv. Und wenn ich dann frage, was jemand unter Musik versteht, dann bin ich bereits mitten im Thema.
Was ist für Sie die wichtigste Bedeutung?
Lothwesen: Ich sehe Musik als menschliches Grundbedürfnis. Damit kann ich mich ausdrücken, jenseits von Sprache, und habe trotzdem die Möglichkeit verstanden zu werden. Musik ist ein Kommunikationsmittel, das mich auch kulturelle Hintergründe sehen lässt.
Eike Sebastian Debus: Bei uns geht es um die Möglichkeiten, die Musik in Bezug auf Heilung bietet. Sie hilft heilen, in ganz verschiedenen Szenarien. In Studien wurde beispielsweise festgestellt, dass Patienten mit Durchblutungsstörungen der Beine unter Einfluss von Musik wesentlich weiter laufen können und man dadurch Schmerzmittel einsparen kann.
Es gibt aber doch garantiert auch Kontraindikationen: Falls ich Helene Fischer nicht ausstehen kann und Bluthochdruck habe, sollte ich das lieber nicht hören …?
Debus: Absolut. Musik ist nicht gleich Musik. Und wenn ich bei Heavy Metal gut operieren kann, braucht mein Kollege vielleicht Mozart. Es gibt Untersuchungen mit Chirurgen, die ergaben, dass Mozart-Liebhaber zu Mozart-Musik atraumatischer und zügiger operiert haben. Bei therapeutischem Einsatz von Musik muss man immer nach Vorlieben des individuellen Patienten gehen.
Mit Musik können ja Sie keinen Splitterbruch beheben. In welchen medizinischen Bereichen kommt sie konkret zum Einsatz?
Debus: In der Psychiatrie, in der Behandlung von Depressionen, bei Demenzkranken, in der Onkologie…
Wie wichtig ist für eine Gesellschaft der Umgang mit Musik, wenn es schon so viele mögliche Bedeutungen gibt?
Lothwesen: Ich finde das sehr zentral. In einer Studie wurde Musik einmal als „auditory cheese cake“ bezeichnet: nett zu haben, aber satt würde man davon nicht werden. Das geht natürlich so gar nicht. Ohne Musik geht gar nichts.
Und was ist mit den Menschen, die sich bei einem Konzert einfach nur unterhalten lassen wollen, vom Alltag abschalten wollen? Die gar nicht wissen wollen, nach welchen Spielregeln diese Musik gebaut wurde?
Lothwesen: Wenn das für sie okay ist, muss man das respektieren. Aber solche subjektiven Vorlieben haben nichts mit Gesellschaft zu tun. Auf der gemeinschaftlichen Ebene spielen andere Faktoren eine Ebene. Ich kann individuelle Musik aussuchen, um Selbstheilungskräfte zu wecken und Kraft zu gewinnen.
„Musik sind bewusst gestaltete, in der Zeit gegliederte und nichtsprachliche akustische Ereignisse in sozialen Zusammenhängen“, behauptet der Neurowissenschaftler und Musiker Eckart Altenmüller. Richtig?
Lothwesen: Das ist super.
Mein Herz schlägt schneller, sobald mich eine bestimmte Musik erwischt, auch wenn ich nicht weiß, was ein Quartsextakkord ist?
Debus: Klar. Genau. Es gibt zwei Methoden Musik zu hören: analytisch oder rein emotional betont. Für uns in der Medizin, in der Therapie, geht es um das emotionale Erlebnis, weniger um die Analyse.
Zeit heilt alle Wunden, aber Musik lindert viele Schmerzen?
Debus: Ja, das würde ich unterschreiben. Es geht bei Musik aber nicht um das Ausheilen, sie ist immer etwas Zusätzliches, Unterstützendes.
Mozart muss für fast alles herhalten: Hühner geben dann mehr Eier, Kühe produzieren mehr Milch. Eine andere Studie kommt zum Schluss, seine Musik verbessere das räumliche Vorstellungsvermögen?
Lothwesen: Eine Studie von 1993, bekannt geworden als der „Mozart-Effekt“. „Musik macht schlau“, auf diesen Slogan wurde das damals gebracht. Und da müssen wir Musikwissenschaftler sagen: Ja, das stimmt. Aber: nur in Musik. Weil Sie in Musik Musik lernen. Es gab Wiederholungen dieser Experimente mit anderer Musik, mit Klassik von Schumann oder mit Heavy Metal, und siehe da: Es funktioniert auch damit. Es geht also immer um subjektive Gewohnheiten. Ich muss beobachten: Wie gehen Menschen mit Musik um, und wozu tun sie das?
Wozu tun sie es denn?
Lothwesen: Sie können Musik hören, damit es ihnen besser geht. Um sich zu fokussieren, sich zu motivieren.
Debus: Menschen haben Angst vor der Einsamkeit haben und vor der Stille. Musik kann hier helfen, davor zu flüchten.
Lothwesen: Stille ist unnatürlich. Wenn Stille da ist, ist es potenziell gefährlich. Weil wir nicht wissen, was passiert.
Das berühmteste rezeptfreie Medikament der Musikgeschichte sind Bachs Goldberg-Variationen, gegen Schlafstörungen komponiert. Haben Sie die schon mal verschrieben?
Debus: Nein. Aber ich verstehe, was Sie meinen. Das ist eine so unaufgeregte, schnörkellose Musik. Da könnte ich mich gut konzentrieren.
Gern erwähnt beim Umgang mit Musik: die Glückshormone, die Endorphine.
Debus: Man kann es oft erleben, dass Menschen beim Hören bestimmter Stücke zu Tränen gerührt sind. Nachgewiesen wurde das beispielsweise bei Demenzkranken, wenn sie Musik hören, mit der sie aus der Jugend positive Assoziationen haben.
Wagners Musik wird besonders gern als Droge bezeichnet. Wer einmal in Bayreuth war, will das immer wieder haben. Musik, egal welcher Stilrichtung, kann also ein natürliches High auslösen?
Lothwesen: Die Frage nach dem High kann man auch anders stellen. Und „Bayreuth“ könnte man durch „Wacken“ ersetzen oder andere Festivals. Das ist viel vielschichtiger als nur der Klang. Das mit der Droge ist mir zu platt. Musik wirkt. Musik wirkt körperlich. Beim Musikhören werden immer auch motorische Areale der Großhirnrinde aktiviert.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
zum Interview: Was Musik von Helene Fischer mit unserem Gehirn macht
Dr. habil. Kai Stefan Lothwesen hat Musikwissenschaft in Gießen studiert und wurde 2006 in Hamburg promoviert. Seit 2017 ist er Vertretungsprofessor am Institut für Systematische Musikwissenschaft.
Univ.-Prof. Dr. med. Eike Sebastian Debus ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Gefäßmedizin im Universitären Herzzentrum (UHZ) und Ordinarius für Gefäßchirurgie am Universitätsklinikum Eppendorf. Zunächst hatte Debus Musik studiert, er spielt Klavier und Kontrabass, sich dann aber für das Medizinstudium entschieden.
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