
Die großen Fragen des LebensFrage 89: Bestimmen die Gene unser Leben – oder wir selbst?Auszug aus dem Interview im Hamburger Abendblatt
18. November 2019, von Digitale Kommunikation und Design

Foto: Mark Sandten / Funke Foto Services
Menschen lassen sich wie ein USB-Stick beschreiben und wie ein Stück Knete formen, sagen Prof. Dr. Ileana Hanganu-Opatz (l.) und ihre Kollegin Dr. med. Maja Hempel.
Hamburg. Ob Aussehen, Intelligenz, Klamottengeschmack oder Partnerwahl: Wie Menschen durch ihr Leben gehen, scheint schon zu großen Teilen durch ihr Erbgut vorbestimmt. Im Interview erklären die Neurophysiologin Prof. Dr. Ileana Hanganu-Opatz und die Humangenetikerin Dr. med. Maja Hempel vom Universitätsklinikum Eppendorf, wie das Zusammenspiel von Genen und Erfahrungen tatsächlich funktioniert – und warum nicht nur unsere DNA, sondern auch unsere Erfahrungen an Kinder vererbt werden.
Hamburger Abendblatt: Immer wieder werden neue Einflüsse von Genen entdeckt. Haben wir als Menschen überhaupt die Chance, selbstbestimmt zu leben?
Maja Hempel: Ja, die haben wir in jedem Fall. Aber, vieles ist durch den genetischen Code vorgegeben – wobei wir einen großen Teil der Wirkungsweise der DNA noch nicht entschlüsselt haben. Von 20.000 Genen verstehen wir erst bei etwa 8000 genauer, wie sie arbeiten. Und wir wissen, dass Gene im Laufe des Lebens moduliert werden. Da kommen die Erfahrung und die Umwelt eines Menschen ins Spiel.
Ileana Hanganu-Opatz: Das Zusammenspiel lässt sich gut an der Entwicklung des Menschen zeigen. Die Hirnentwicklung wird am Anfang durch Gene kontrolliert, dabei laufen Programme wie in einem Computer ab, es entstehen Nervenzellen und Verbindungen zwischen ihnen. Wir sprechen hier von 100 Milliarden Nervenzellen im Gehirn, Hunderttausende davon innerhalb weniger Minuten. Das ist ein wahnsinnig schneller Prozess. Trotzdem errichtet der genetische Code nur den Rohbau, aber das Haus ist nicht fertig. Dieser Rohbau lässt viele Möglichkeiten offen, von einer kleinen Hütte bis zum Schloss.
Wie wirken sich die Einflüsse aus der Umwelt konkret aus?
Hanganu-Opatz: Da sind kritische Phasen, in denen Eindrücke und Erfahrungen für bestimmte Bereiche entscheidend sind. Es gibt dazu ein berühmtes Experiment mit Affen: Jungen Tieren wurde für eine gewisse Zeit ein Auge zugeklebt. Man konnte beobachten, wie die für dieses Auge zuständigen Bereiche im Gehirn kleiner, die für das offene Auge dagegen immer größer wurden. Interessant ist auch, dass der Effekt nicht eintritt, wenn man das Auge zu einem späteren Zeitpunkt in der Entwicklung des Tieres zuklebt.
Wenn man Kinder bekommt, denkt man, dass man sie formen kann. Dann merkt man: Da ist schon ein ziemlich ausgeprägter Charakter.
Hempel: Man kann sich Menschen wie ein Stück Knete vorstellen. Flach, aber schon mit ihren eigenen, feinen Ausprägungen und Mustern. Das ist die genetische Vorbestimmung. Es gibt dabei aber kein einzelnes Gen für die Schüchternheit oder Narzissmus etwa. Erst in Kombination ergeben sie einen Rahmen. Das betrifft etwa auch den Grad der Intelligenz, den Kinder erreichen können.
Hanganu-Opatz: Der Rest liegt wirklich in der Erziehung. Deshalb ist Trägheit hier der falsche Weg. Man kann sehr gut messen und im Gehirn sehen, welchen positiven Effekt es hat, wenn man Kinder mit bestimmten Eindrücken konfrontiert. Das betrifft wirklich alle Bereiche: Kreativität, Musikalität, aber auch die kognitiven Fähigkeiten.
Wo liegt die Grenze zur Reizüberflutung?
Hanganu-Opatz: Zu viel kann natürlich schädlich sein. Kinder sind wie ein Schwamm, sie wollen sehr viel. Man muss sich mit seinem Kind sehr intensiv beschäftigen, um da herauszufinden, wie viel sie wirklich vertragen. Fördern ist das Schlüsselwort – wenn kein Interesse des Kindes da ist, sollte es auch nicht erzwungen werden, sondern auf eine spielerische Weise nähergebracht werden.
Heutzutage wird viel darauf gelegt, möglichst geschlechtsneutral zu erziehen.
Hempel: Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es sicher kein einzelnes Rosa-Gen, das das für alle Mädchen zur Lieblingsfarbe macht. Aber wir beobachten schon, wie spezifisch unterschiedlich Geschlechter nun einmal sind. Auch das Gefühl der Geschlechtsidentität hat sicher einen genetischen Hintergrund. Das dürfte auch Fälle betreffen, in denen etwa ein Junge sich als Mädchen fühlt.
Hanganu-Opatz: Die Gehirne von Jungen und Mädchen sind auch einfach unterschiedlich. Diese Geschlechtsneutralität, die man oft etwas krampfhaft herzustellen versucht, ist deshalb gar nicht gut. 99 Prozent der Mädchen mögen Rosa, und das sollte man auch akzeptieren können – solange man nicht diskriminiert oder alle Mädchen deshalb zum Ballett schickt. Aus der evolutionären Perspektive sind die Geschlechterunterschiede ja auch entscheidend, damit die Spezies überlebt.
Kinder können anscheinend unabhängig von der Intelligenz viel besser Sprachen lernen als Erwachsene.
Hanganu-Opatz: Ja, das Phänomen gibt es. Diese Fähigkeit ist bis zur Pubertät sehr ausgeprägt und begründet sich auf der Flexibilität der Reifungsprozesse im Gehirn, vor allem im präfrontalen Kortex, die zentrale Stelle der Handlungssteuerung.
Hempel: Woher diese Fähigkeit genau kommt, können wir noch nicht erklären. Das ist ähnlich wie die Frage nach dem Altern. Wir wissen, dass Prozesse in Gang kommen, dass sich unsere Zellen immer weniger regenerieren, dass sehen wir an der Haut und an den Knochen. Auch Nervenzellen im Gehirn teilen sich weniger. Chromosomen verlieren an Länge. Auch hier scheint eine genetische Bestimmung vorzuliegen, wie lange die Programme andauern.
Hanganu-Opatz: Interessanterweise gibt es nur zwei Bereiche im Gehirn, in denen bis zum Lebensende neue Nervenzellen entstehen: Bei der Dufterkennung und im Bereich des Gedächtnisses. Es wird intensiv daran geforscht, das näher zu erklären.
Beeinflussen Erinnerungen und Eindrücke auch die Gene?
Hempel: Ja, es gibt faszinierende Ergebnisse dazu aus Studien der Epigenetik. Das beste Beispiel ist eine Untersuchung von Menschen, die in den Niederlanden während des Zweiten Weltkrieges Hunger gelitten haben. Man hat nachgewiesen, dass die Nachfahren ein erhöhtes Risiko für Fettleibigkeit, Diabetes und Bluthochdruck haben. Die Spermien und Eizellen haben damals also bereits die Information bekommen, dass Essen ein knappes Gut ist.
Trägt also jeder auch die Erfahrungen seiner Eltern schon in der DNA mit sich?
Hempel: Davon kann man zumindest für große, umfassende und prägende Ereignisse wie den Weltkriegen ausgehen. Es gibt auch große Familienstudien, die belegt haben, dass die Folgen nicht nur bei der Nachkriegsgeneration, sondern auch deren Kindern noch sichtbar sind.
Welche Wirkung haben die großen persönlichen Erfahrungen wie der erste Liebeskummer oder ein Schicksalsschlag?
Hanganu-Opatz: Das hängt sehr von der Widerstandskraft des Individuums ab. Wir sprechen hier über die Wirkung der chemischen Botenstoffe. Welche Kaskaden sie im Gehirn auslösen, hängt davon ab, wie die Verbindungen der Nervenzellen entstanden sind und wie stabil sie sind. Wie empfindlich die Rezeptoren für die Hormone sind, ist wiederum eine Frage der Genetik.
Ist bei jedem Menschen vorbestimmt, wie schlimm man sich in der Pubertät verhält?
Hanganu-Opatz: Das hängt eindeutig eher von den Umständen ab. Eine Pubertät als Zeit der Rebellion, wie wir sie heute in der westlichen Welt kennen, gab es vor 100 Jahren in dieser Form nicht. Das liegt einfach daran, dass Kinder damals viel früher Verantwortung übernehmen mussten. Entsprechend musste auch ein vernünftiges Denken früher entwickelt werden.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
zum Interview: Bestimmen die Gene unser Leben – oder wir selbst?
Prof. Dr. Ileana Hanganu-Opatz leitet eine Arbeitsgruppe für Entwicklungsneurophysiologie im Institut für Neuroanatomie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). Sie hat in Bukarest studiert und sich danach vor allem der Aufgabe verschrieben, die Entwicklung und Aktivitäten von Netzwerken im Gehirn zu erforschen. Für ihre Arbeit erhielt sie mehrere Auszeichnungen und gehört seit 2014 dem Europäischen Exzellenznetzwerk an.
Dr. med. Maja Hempel ist Oberärztin und Stellvertretende Ärztliche Direktorin im Institut für Humangenetik des UKE. Ihr Schwerpunkt liegt in der Behandlung und Erforschung von komplexen Entwicklungsstörungen und genetisch bedingten Fehlbildungssyndromen, etwa bei Kindern. Sie ist auch als Privatdozentin tätig.
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