Die großen Fragen des LebensFrage 90: Wie streiten wir richtig?Auszug aus dem Interview im Hamburger Abendblatt
25. November 2019, von Digitale Kommunikation und Design
Foto: Thorsten Ahlf
Sonja Nielbock und Dr. Jens Joachim Rogmann über die Frage nach der richtigen Konfliktbewältigung.
Hamburg. Wenn es Ärger gibt, dann geht es bei Paaren, Freunden, unter Geschwistern und auch im Team bei der Arbeit häufig nur um eines: Anerkennung. Werde ich gesehen? Bin ich wichtig? Letztendlich lassen sich die meisten Konflikte darauf zurückführen. Sonja Nielbock und Dr. Jens Joachim Rogmann von der Universität Hamburg erklären, wie ich mich im Streitfall am besten verhalte.
Hamburger Abendblatt: Kürzlich war ich bei einem Dinner, und es gab Streit zwischen zwei Anwesenden. Eher ungewöhnlich, wie ich fand, eigentlich sagen wir uns unsere Meinung selten so direkt ins Gesicht, oder?
Sonja Nielbock: Es ist mutig zu benennen, was einen stört. Dabei handelt es sich um einen eher westlichen Wert. Asiaten würden eine Auseinandersetzung vermeiden, da es Gesichtsverlust für sie bedeutet. Franzosen streiten sich tendenziell noch mal lieber als Deutsche. Dort herrscht eine Debattenkultur, wo man abends hitzig beim Essen diskutiert, und am nächsten Morgen ist wieder alles okay. Unsere Streit-Stile unterscheiden sich sehr stark.
Dr. Jens Rogmann: Man kann eine Diskussion jederzeit optimieren, indem man beispielsweise sagt: „Willst du mal hören, wie meine Meinung dazu ist?“ Den anderen einzubinden hilft. Und als zweites könnte man sagen: „Ich kann auch falsch liegen. Sag du mir mal, was ich vielleicht nicht bedacht habe.“ Das nimmt jedem Streit die Spitze. Wobei „Streit“ schwer zu definieren ist. Ist ein Streit die hitzige, emotionale Auseinandersetzung, in der möglichst viele Scherben produziert werden?
Nielbock: Streiten ist eine spezifische Form des Konfliktes, bei dem die Leute noch relativ sachlich sind. In einem Streit gibt es Positionen und Sichtweisen. Das kann auch mal laut werden, aber es handelt sich eher um eine Debatte, die nicht stark eskaliert. Sobald es emotionaler wird und persönliche Angriffe mit hineinkommen, würde ich es als Konflikt bezeichnen. Gerade an der Universität ist Streit einfach Wesensmerkmal im wissenschaftlichen Arbeiten. Nur so kommt man zu neuen Erkenntnissen.
Es handelt sich beim Streit also um einen wichtigen Teil des Alltags?
Nielbock: Genau! Ich würde sogar sagen, Streit ist für unsere Gesellschaft, für jede Organisation und für den Einzelnen sehr wichtig, um sich überhaupt weiterzuentwickeln. Dazu passt ein schönes Zitat vom Soziologen Ralf Dahrendorf: „Ohne Streit gibt es keinen Fortschritt.“ Ein Streit und die Lösung des Konflikts kann eine Beziehung vertiefen und verbessern. Diese Erfahrung habe ich sowohl beruflich als auch privat gemacht.
Es gibt aber auch Streite, die nicht sein müssten.
Rogmann: Meinen Sie?
Nielbock: Doch. Jeder Streit, der entweder mit Machtspielen zu tun hat oder auf falscher Ebene ausgetragen wird, ist überflüssig. Wenn ich mich über jemanden ärgere und dann Sachargumente vortäusche, obwohl ich eigentlich nur sagen will: „Deine Art nervt mich schon so lange.“ Ich empfehle jedem zu überlegen: Worum geht es mir eigentlich? Was ist mein Bedürfnis? Wenn das Bedürfnis im Ärgerablassen liegt, dann ist ein Streit nicht sinnvoll.
Rogmann: Macht wird oft genutzt, um einen Streit zu unterbinden, der aber vielleicht wertvoll gewesen wäre. Und Beziehungskonflikte nicht offen anzusprechen, ist selten empfehlenswert. Da macht man dem anderen was vor.
Wird häufig auf einer ganz anderen Ebene gestritten und das, worum es eigentlich geht, kommt nicht zur Sprache?
Nielbock: Bei uns in der Konfliktberatung geht es genau um die Frage: Was steckt dahinter? Ich frage die Leute dann: Was brauchen Sie eigentlich, damit es Ihnen in der Zusammenarbeit gut geht? Was wollen Sie von Ihrem Gegenüber? Was soll der anders machen? So findet man Lösungen. Das unterstreicht wieder den produktiven Charakter des Streitens. Es geht um Verbesserungen.
Das klingt mir zu positiv. Streit erfordert doch auch viel Kraft und nimmt Energie.
Rogmann: Und wie. Ein Streit ist immer belastend, das stimmt. Manche Konflikte machen sogar richtig krank.
Nielbock: Wir erleben im Alltag aber zu viel konfliktvermeidendes Verhalten. Gerade auch deshalb, weil die meisten Menschen Angst haben vor Konflikten. Weil man nicht weiß, was passiert. Insofern ist Ihr Dinner-Erlebnis in der Tat bemerkenswert. Die meisten Leute trauen sich nicht und sprechen nur hinter dem Rücken. Das produziert langfristig schlimmere Konflikte. Heutzutage haben wir alle außerdem viel zu wenig Zeit zum Streiten. Dann schluckt man es lieber runter und macht weiter.
Rogmann: Bei einem Streit sollten wir uns vor Augen halten, dass der eine Konfliktpartner nicht sehen kann, was in dem anderen vor sich geht, mit welchen Interessen, Zielen und Bedürfnissen der andere ausgestattet ist. Wir sehen nur sein Verhalten und welche Wirkung es auf uns hat. Meistens schreiben wir dem Anderen Motive zu, die viel schlechter sind, als die Motive, die man sich selbst zugutehält. Das ist das, was Schulz von Thun „misanthropische Unterstellung“ nennt: beim anderen von einer unmoralischen Motivlage auszugehen. Aber das ist sehr selten richtig. Bei einem produktiven Streit erfolgt ein offener Austausch darüber, ein Test dieser eigenen Annahmen: „Darf ich mal hören, was du über mich denkst?“ Und: „Sag doch mal, ob ich damit richtigliege oder nicht.“ Immer mit der Erwartung, dass man sich wahrscheinlich irgendwo irrt. Meistens läuft es aber nicht so …
Selbst nicht bei Streit-Experten wie Ihnen beiden?
Rogmann: Mir geht es da genauso wie anderen Menschen auch. Nur weil wir uns mit Konflikten beschäftigen, können wir sie nicht immer besser händeln. Wahrscheinlich habe ich schon im Laufe der Zeit dazugelernt, aber wenn ich unter Druck stehe oder von einer Entscheidung z. B. viel abhängt, dann fällt es mir auch schwer, die richtigen Verhaltensweisen umzusetzen.
Um was streiten Sie sich denn?
Nielbock: Um Werte. Mir ist aufgefallen, dass Freundschaften in meinem Umfeld an Fragen von Kindererziehung zerbrochen sind. Denn dabei geht es um Werte, um Privates. Es gibt kaum etwas Wichtigeres für einen Vater und eine Mutter als das eigene Kind und die Vorstellung, was für das Kind wichtig ist. Freundinnen von mir haben sich zerstritten über die Frage, wie man mit Kindern umgeht. Das ist schwer wieder zu kitten, weil es die Identität betrifft. Für einen produktiven Streit müssten die akzeptieren, dass andere Menschen die Situation anders sehen können, dass es unterschiedliche Sichtweisen gibt und nicht nur die eigene richtig ist. Das halten die meisten Menschen gar nicht aus. Wenn es um Kinder geht, am wenigsten. Oder um den Partner. Deshalb stehen die Regale voller Ratgeber über die Liebesbeziehung, die nicht kaputtgehen soll.
Gibt es eine Grafik über die Streithäufigkeit von Paaren, bezogen auf die Jahre des Zusammenseins oder die Anzahl der Kinder?
Nielbock: Ein Paar mit Kindern hat deutlich mehr Klärungs- und Organisationsbedarf. Ich würde sagen, es ist eher ein Zeichen einer gesunden Beziehung, wenn man sich darüber auseinandersetzt. Wenn sich einer zurückzieht, dann hält entweder die Beziehung nicht mehr lange, oder einer leidet zu stark.
Rogmann: Es ist grundsätzlich wichtig in einer Paarbeziehung, sich Zeit füreinander zu nehmen. Bei vielen Paaren geht das wegen der Belastungen im Alltag mit Kindern verloren. Ich habe die Erfahrung auch in der Beziehung mit meiner Frau gemacht, dass es hilft, darüber zu sprechen, was uns in unserer Beziehung gefällt oder nicht. Wenn man sich nicht offen sagt, was einen stört, dann wirkt das wie Sand im Zahngetriebe. Es gibt Reibung. Immer mehr Sand häuft sich auf, den muss man abbauen.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
zum Interview: Experten erklären: Wie wir richtig streiten
Dr. Jens J. Rogmann, Dipl.-Psychologe, Mediator, lehrt und forscht zu den Themen Kommunikation und Kritisches Denken im Arbeitsbereich Pädagogische Psychologie der Fakultät für Erziehungswissenschaft.
Sonja Nielbock ist Soziologin. Nachdem sie lange als selbstständige Organisationsberaterin und Coach tätig war, leitet sie seit 2015 die Stabsstelle Konfliktprävention und -beratung der Universität Hamburg. Sie berät und koordiniert die Arbeitskonflikte zwischen Einzelnen sowie zwischen Instituten bzw. Arbeitsbereichen an der Universität.
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