Die großen Fragen des LebensFrage 92: Ist Heimat noch zeitgemäß?Auszug aus dem Interview im Hamburger Abendblatt
11. Dezember 2019, von Digitale Kommunikation und Design
Foto: Mark Sandten / Funke Foto Services
Was ist Heimat? Privatdozentin Annegret Reitz-Dinse (links) mit dem Kunstprojekt „Papaltys“ von Maria & Natalia Petschatnikov und die Geografin Prof. Dr. Beate M.W. Ratter mit einem Leuchtturm.
Es ist noch nicht lange her, da galt Heimat als Begriff aus der Mottenkiste, irgendwo zwischen Heimatfilm und Heimatkunde. Die Theologin Dr. Annegret Reitz-Dinse und die Geografin Prof. Dr. Beate M. W. Ratter befassen sich wissenschaftlich mit der Thematik. Ein Gespräch über Sehnsucht, Missverständnisse und warum Heimatliebe durch den Magen geht.
Wenn Sie den Begriff Heimat hören, welche Bilder kommen Ihnen dann spontan in den Sinn?
Beate Ratter: Ich sehe das Bild der Küste, das Bild der Weite, ich sehe einen Leuchtturm, einen Ort, an dem ich mich wohlfühlen kann. Vielleicht auch den Altonaer Balkon und den Blick auf die Elbe. Heimat ist aber nicht nur ein Ort, Heimat ist ein Gefühl und etwas Soziales zugleich.
Annegret Reitz-Dinse: Ich sehe die Spannung, die in dem Begriff Heimat steckt. Wir kennen das Gefühl der Heimat in anderen Kulturen, aber nicht diesen spezifischen Begriff, er lässt sich nicht gut in andere Sprachen übersetzen. Heimat hat zwei Pole: Er hat zu tun mit Herkunft und Wurzeln, mit der Muttersprache, Landschaften, Jahreszeiten, Gerüchen, Geschmäckern – aber eben auch etwas mit den Beziehungen, die ich aufbaue und gestalte. Heimat verbindet Menschen. Sie ist nicht exklusiv, sondern inklusiv, dahinter steckt ein Konzept der Teilhabe. Wir sollten niemanden ausgrenzen.
Wo sehen Sie die Trennlinie zwischen Heimat und Vaterland?
Ratter: Vaterland ist etwas Politisches. Da steht nicht das Soziale, das Gemeinschaftliche und das Persönliche im Vordergrund, sondern eine politisch-territoriale Einheit, im ab- oder auch ausgrenzenden Sinn. Da geht es um Macht und Differenz. Bei Heimat geht es ums Gegenteil. Vielleicht kann man es so sagen: Heimat ist Garten, Vaterland eher der Zaun.
Wie forscht man zum Thema Heimat, wenn man den Begriff nur im deutschen Sprachraum kennt?
Ratter: Heimat ist ein deutsches Wort, aber das Gefühl gibt es überall auf der Welt. Von meinen chinesischen Kollegen habe ich die schöne Übersetzung mitgebracht: Heimat ist Laub, das auf Wurzeln fällt. Das hat bei mir viel ausgelöst: das Vergängliche wie das Verankernde, beides wird hier zusammen gesehen.
Es gibt den Satz: Heimat ist, wo du wegwillst, wenn du älter wirst, und zurückwillst, wenn du alt bist.
Ratter: Das bestätigen unsere empirischen Untersuchungen: Junge Menschen zwischen 16 und 26 halten das Soziale, die Freunde, die Familie für Heimat. Das kippt bei den Älteren – sie verstehen darunter eher einen Ort. Wir fragen nach beidem, was ist Heimat und wo ist Heimat? Wenn ich mit Studenten spreche, bekomme ich ganz andere Antworten als wenn ich mit Kollegen rede. Neulich sagte mir ein Student: Heimat ist da, wo meine Startseite erscheint, wenn ich das Internet anschalte.
Ist Heimat heute noch zeitgemäß?
Ratter: Heimat ist ein Gefühl der vielschichtigen Ortsverbundenheit und damit aktuell. Es gibt Menschen, die tätowieren sich sogar ihre Heimatstadt auf die Haut. Oder den Spruch „Lever dood as Slaav“.
Reitz-Dinse: Das ist etwas Demonstratives – jeder soll wissen, woher man kommt.
Ratter: Genau. Manche Biermarken setzen Heimat gezielt in der Werbung ein, etwa Ratsherrn mit Hamburg. Auch das Hamburger Abendblatt wirbt mit „die Heimat im Herzen“. Das zeigt nicht nur, dass Heimat zeitgemäß ist, sondern auch, dass die Stadt Heimat sein kann. Meistenteils denkt man vor allem das Land als Heimat.
Hätte man mit Heimat in den Siebzigerjahren keine Werbung gemacht?
Ratter: Nein, überhaupt nicht. In den Fünfzigerjahren war Heimat sehr beliebt – es gab nach dem Krieg den Rückzug ins Heimelige, schauen Sie sich nur die Heimatfilme aus dieser Zeit an. Die Siebzigerjahre waren hingegen eine Zeit der Revolte, da passte der Begriff nicht mehr. Es gibt immer noch Menschen, die damals sozialisiert wurden, und die Heimat für einen nationalsozialistischen Begriff halten. Im sogenannten Dritten Reich wurde der Begriff zusammen mit Bedeutungen wie Nationalstolz und seiner Blut-und-Boden-Ideologie korrumpiert. Wir dürfen die Heimat aber auf keinen Fall rechten, nationalistischen Ideologien überlassen.
Reitz-Dinse: Genau. Wir müssen das deutsche Wort mit seinen integrativen Potenzialen erkennen. Heimat ist Arbeit, sagt Ernst Bloch – aber wenn wir da investieren, bekommen wir etwas Schönes: eine weltoffene Stadt.
Sehen Ihre Studenten das auch so?
Reitz-Dinse: Meine Studenten haben festgestellt, dass Gespräche über Heimat eine besondere Tiefe haben. Das hat sie berührt und gezeigt, dass der Begriff Energie hat und etwas auslöst. Heimat ist ein Bedürfnis nach Beziehung, weil Heimat uns verbindet. In einer Welt der Migration und Globalisierung wird Heimat, werden Vertrauen und Verwurzelung wieder aktuell. Wir sollten den Begriff aber neu definieren und besser von Heimaten sprechen. Immer mehr Menschen leben an verschiedenen Orten und schlagen dort Wurzeln.
Haben Sie auch mehrere Heimaten?
Reitz-Dinse: Ja, ich bin in Nordhessen aufgewachsen – der Klang der Sprache dort löst bei mir besondere Gefühle aus. Ich habe mehrere Jahre in Rom gelebt, und die Atmosphäre der Stadt berührt mich seither anders als eine Touristin. Und natürlich Hamburg, eine wunderschöne Stadt, in der ich gern lebe. Das sind Heimaten in unterschiedlichen Facetten, die in meiner Seele eine Spur gelegt haben.
Wie lange dauert es denn, bis man heimisch wird?
Ratter: (lacht) Genau 15,3 Minuten
Reitz-Dinse: So lange, wie es braucht, im menschlichen Zusammenspiel Resonanzen zu finden, Freunde zu finden, die Sprache zu erlernen und eine aktive Rolle zu spielen, im Job, im Sport, im Chor
Ratter: Es ist schwer, das auf eine Zeitspanne festzulegen. Manche sind schnell, manchmal dauert es lange. Ich habe zwei Jahre in der Karibik gelebt und fand es toll dort, bin aber nicht heimisch geworden. Im Laufe eines Lebens können sich die Schwerpunkte ändern. Ich bin nun seit 35 Jahren in Hamburg und wäre inzwischen gerne eine Hamburgerin, aber kann es nicht sein, weil meine Großeltern hier nicht geboren sind.
Die „echten Hamburger“ halten eben an diesem archaischen Konzept fest.
Ratter: Ja, diese Geschichte erzählen wir uns immer noch – man muss Hamburger in dritter Generation sein, sonst ist man kein echter Hamburger. Aber es gibt manche Ortsgebundenheiten, die aus alter Zeit fortwirken – Nordhessen und Südniedersachsen können sich bis heute nicht leiden. Auch Mainz und Wiesbaden stehen sich konkurrierend am selben Fluss gegenüber, der doch eigentlich verbindet.
Manchmal weitet sich der Blick, wenn man seine Heimat verlässt.
Ratter: Unbedingt. Ein kleines Beispiel: Wenn sie in Hessen gefragt werden, woher sie kommen, nennen sie den Ort. Werden sie das gleiche in Hamburg gefragt, sagen sie „aus Hessen“, in den USA „aus Deutschland“ und in Peking antworten sie „Europa“. Diese Maßstabsverschachtelung macht auch Identitäten aus.
Reitz-Dinse: Die kleinräumigen Konflikte gibt es, aber sie lösen sich auch auf. Mein Mann kommt aus Flensburg. Dort gibt es viel mehr dänisch-deutsche Durchlässigkeit als früher. Man sieht den Reichtum, den man durch unterschiedliche Sprachen und Traditionen hat.
Gibt es in Deutschland Regionen mit einem besonders intensiven Heimatgefühl? Vielleicht Bayern?
Ratter: In Schleswig-Holstein ist das nicht anders als in Bayern, vielleicht sieht es nur anders aus. Die glücklichsten Menschen leben ja im Norden, Schleswig-Holstein hat eine tolle Landschaft zwischen den Meeren und keine großen sozialen Unterschiede, keinen Neid. Unser Bayern-Bild mit Laptop und Lederhosen scheint mir etwas stereotyp zu sein.
Zwingt uns Migration dazu, verstärkt über Heimat nachzudenken?
Ratter: Das würde ich ganz klar unterstreichen. Erst über das Fernweh kann man Heimweh bekommen. Es gibt das schöne Buch „Oh, wie schön ist Panama“ von Janosch – sie müssen erst los, um ihr Zuhause neu schätzen zu lernen.
Reitz-Dinse: Über das Fremde kann man das Eigene oft besser sehen. Es gibt viele junge Köche, die Regionales neu wertschätzen. Ich denke da auch an internationale Restaurants. Die Küchen der Welt bieten uns etwas, das uns mit Wurzeln verbindet. Wir können dort hingehen und es erleben – das ist ein spielerischer Umgang mit Heimaten.
Ratter: Im Türkischen gibt es das Sprichwort: Heimat ist da, wo ich satt werde. Interessant ist eine unserer Umfragen: Darin haben wir Dänen, Holländer und Deutsche nach ihrer typischen Küche befragt. Bei den Deutschen kamen ewig lange Listen mit Labskaus, Krabben, Kohl, Bohnen und so weiter, bei den Dänen kam eine halblange Liste mit Salzwiesenlamm und Kuchen – und bei den Holländern kam: Pommes.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
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