
Die großen Fragen des LebensFrage 95: Gibt es universelle Werte?Auszug aus dem Interview im Hamburger Abendblatt
30. Dezember 2019, von Digitale Kommunikation und Design

Foto: Thorsten Ahlf
Die 100 großen Fragen des Lebens: Gibt es universelle Werte? Prof. Dr. Christine Straehle und Prof. Dr. Stefan Oeter im Abendblatt-Interview.
Wir leben in einer spannenden Zeit – denn die Werte, die früher vor allem religiös bestimmt waren, werden neu ausgehandelt. Worauf wir uns weltweit einigen können und welche Rolle die Menschenrechte spielen, erklären Philosophieprofessorin Christine Straehle und Juraprofessor Stefan Oeter.
Hamburger Abendblatt: Wie wichtig sind Werte überhaupt für uns?
Prof. Dr. Christine Straehle: Sehr wichtig. Wir leben im Moment in einer interessanten Zeit, weil es eine breite Diskussion über Werte gibt. Früher waren sie hauptsächlich religiös bestimmt, aber die Bindekraft der Religionen ist gesunken. Manche Menschen sind nicht gläubig, andere sind religiös, doch es gibt im Zusammenleben verschiedene Religionen – wir leben in pluralistischen Gesellschaften. Wie sich unter diesen Umständen alle auf dieselben Werte einigen, ist die spannende Frage.
Welche Funktion haben Werte denn?
Prof. Dr. Stefan Oeter: Werte strukturieren unsere normativen Erwartungen und liegen insofern dem Recht zugrunde. Man kann sagen: Recht funktioniert dann am besten, wenn es sich sehr stark mit unserem Wertesystem deckt. Früher haben die Menschen das Wertesystem, das damals eher einheitlich religionsgeprägt war, wenig hinterfragt. Mit der zunehmenden Pluralisierung der Gesellschaft sind wir dabei, neu auszuhandeln, auf welche Werte wir uns kollektiv verständigen können.
Früher gab es mehr Einigkeit über die Werte – galt das nur regional oder auch global?
Oeter: Weltweit eher nicht. Die nationalen Gesellschaften waren stark von homogenen Eliten dominiert, da gab es einen viel klareren Wertekanon. International waren die Werte unterschiedlicher als heute. Wir sind seit Jahrzehnten in einem schwierigen Annäherungsprozess, uns auf einen minimalen Kanon globaler Werte zu verständigen.
Was hat sich da genau geändert?
Straehle: Zum einen haben wir nicht mehr die unhinterfragte Instanz, die das Recht beziehungsweise die Werte früher durchsetzte. Es gibt mehr Demokratien; das heißt, die Menschen berufen sich auf ihre Gleichberechtigung, auf ihre Gleichheit und fordern eben auch Gleichbehandlung ein. Deshalb muss man überlegen, wie ihre speziellen Ansprüche, die den jeweils eigenen Werten folgen, umgesetzt werden können.
Also: Menschen fordern Gleichbehandlung für sich und ihre Werte ein; so werden die Gesellschaften pluraler.
Straehle: Genau. Wir haben in Deutschland wie in den anderen liberaldemokratischen Ländern Religionsfreiheit. Wenn es nur eine Religion gibt im Land, dann ist das relativ einfach zu verwirklichen. Bei vielen verschiedenen Religionszugehörigkeiten und Gruppen ist es viel schwieriger, das auszutarieren. Das ist die neue Herausforderung für die Politik angesichts des Multikulturalismus, der sich in den vergangenen 50 Jahren zunehmend durchsetzt – ein radikaler Wandel, der unsere Zeit so spannend macht.
Oeter: Gleichzeitig beobachten wir in den letzten fünf, sechs Jahrzehnten eine massive Individualisierung. Die Orientierung am Kollektiv ist – jedenfalls in den westlichen Gesellschaften – immer stärker zurückgetreten; wir betonen individuelle Werte und Selbstentfaltung. Andere Gesellschaften auf der Welt haben eine viel stärker kollektive Orientierung. Das bringt große Unterschiede in den Wertesystemen mit sich.
Beim Aushandeln der Werte in einer Gesellschaft spielt das Recht eine wichtige Rolle.
Oeter: Ja, das Recht versucht, auf einer eher pragmatischen Ebene dieses Zusammenleben zu organisieren. Aber das Recht braucht gleichzeitig so etwas wie einen Grundkanon an geteilten Werten und Überzeugungen, weil es sonst bei der Durchsetzung Schwierigkeiten gibt. Recht, das auf formale Durchsetzung angewiesen ist, funktioniert kaum noch. Dafür ist notwendig, dass die Grundsätze weitgehend internalisiert sind und für die Betroffenen Orientierungspunkte bieten, wie sie sich im Verhältnis zu anderen verhalten sollten.
Schon die antiken Philosophen haben sich stark mit Werten auseinandergesetzt.
Straehle: In der Antike gab es ganz klare Werte, die von der herrschenden Klasse festgelegt wurden - nach denen musste sich jeder richten. Die Antike gilt zwar als Vorbild unserer Demokratie, aber es wurde nicht wirklich demokratisch diskutiert. Ohnehin blieben 75 Prozent der Bevölkerung bei dieser Demokratie außen vor. In der Antike war die Vorstellung von dem, was moralisch ist, stark von Tugenden geprägt, die es zu vervollkommnen galt. Nach damaliger Überzeugung konnte man ein gutes Leben nur führen, wenn man tugendhaft war - das heißt: der Gemeinschaft diente, indem man beispielsweise für sie in den Krieg zog oder viele Kinder großzog. Auch heute gibt es Religionen und Kulturen, die insbesondere den Wert betonen, dass man der Gemeinschaft etwas zurückgibt.
Bei uns gilt das ja auch.
Straehle: Stimmt. Zwar wächst der Individualismus, aber es gibt auch bei uns noch ein großes Maß an Gemeinsinn - man denke nur an die vielen Menschen, die ehrenamtliche Arbeit leisten.
Bestimmen Eliten noch heute maßgeblich unser Wertesystem?
Oeter: Es wird stärker hinterfragt als vor 50 oder 100 Jahren, aber unser Wertesystem ist immer noch stark von Eliten geprägt.
Welche Werte sind denn heute allgemein gültig?
Straehle: Die wichtigste Idee ist, dass wir alle gleich sind, also die gleichen Rechte haben. Es gibt nicht mehr die Idee, dass beispielsweise der Adel über ein anderes Geburtsrecht verfügte. Wir gehen davon aus, dass jeder jedem in der Hinsicht gleich ist, dass wir grundsätzlich alle Anspruch darauf haben, ein gutes Leben selbstbestimmt zu leben. Alles Weitere folgt daraus.
Oeter: Auf der internationalen Ebene bedeutet dies die Selbstbestimmung der bestehenden Kollektive – also auch die Ablehnung von Fremdherrschaft und die souveräne Gleichheit der Gemeinschaften als Grundprinzip.
Im Zentrum allgemeingültiger Werte steht also der Gleichheitsgrundsatz, von dem sich alle anderen ableiten lassen.
Oeter: Genau das ist gemeint. Gleichzeitig haben wir viel stärker als früher eine Ablehnung von Gewalt. Und das Recht des Stärkeren akzeptieren wir heute nicht mehr.
Erklären Sie das mal US-Präsident Donald Trump!
Oeter: Das ist eben gerade ein Teil des europäischen – und nicht nur des europäischen – Unbehagens mit Donald Trump. Der ist aus der Zeit gefallen in den Einstellungen, die er vertritt.
Welche universelle Werte lassen sich aus dem Grundprinzip der Gleichheit ableiten?
Straehle: Das ist in den 1948 von der UNO verabschiedeten Menschenrechtskatalogen sehr genau aufgeführt: Jeder sollte genug zum Überleben haben – also Essen, Wasser und den Schutz vor den Elementen und vor Gewalt. Jeder sollte die Möglichkeit haben, selbstbestimmt zu leben – also einen Beruf zu ergreifen, eine Familie zu gründen, Bildung zu genießen, frei zu reden.
Oeter: In der Umsetzung dieser Grundsätze beginnen dann die Schwierigkeiten. Jeder sollte genug zum Leben haben, also ein Existenzminimum. Aber wir wissen empirisch, dass dies nicht der Fall ist, schon gar nicht überall auf der Welt. Wenn man die Anforderung hat, dass alle Menschen gleich sind, dann müsste ein globaler Gerechtigkeitsanspruch zu Solidarität mit denen führen, die zu wenig haben zum Leben. Das ist eine der ganz großen ungelösten Baustellen in unserem globalen Wertediskurs.
Straehle: Das ist sicherlich richtig. Aber die Funktion der Werte besteht darin, als Richtlinie zu dienen und unser Maßstab zu sein. Das heißt: Wir orientieren uns an diesen Werten und versuchen, sie zu realisieren. Dass sie noch längst nicht überall umgesetzt sind, diskreditiert sie nicht im Grundsatz. Anders ausgedrückt: Wenn es immer wieder Menschen gibt, die über eine rote Ampel fahren, bedeutet das nicht, dass die Idee einer roten Ampel grundsätzlich falsch wäre.
Sie meinen, dass Werte nicht überall eingelöst werden, schmälert nicht ihren Anspruch oder ihre Bedeutung.
Oeter: Dazu kommt die Frage, was die einzelnen Werte in der Umsetzung konkret bedeuten – das muss immer wieder mühsam ausgehandelt werden.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
zum Interview: Gibt es universelle Werte?
Prof. Dr. Christine Straehle hat seit Juli 2019 eine Professur für praktische Philosophie an der Universität Hamburg. Sie hat zuvor in Kanada promoviert und dort ihre akademische Laufbahn fortgesetzt. Sie beschäftigt sich mit der politischen Philosophie, der Sozialphilosophie und Moralphilosophie. Da geht es um die normative Begründung von Politik.
Prof. Dr. Stefan Oeter ist seit 1999 Professor an der Juristischen Fakultät der Universität Hamburg und hat den Lehrstuhl für Völkerrecht. Er befasst sich mit praktischen Aspekten des Völkerrechts, also etwa der Regulierung von Gewalt und Wirtschaftsvölkerrecht. Zuletzt galt sein Interesse verstärkt auch den Fragen, wie die sozialen Normen in der Praxis ankommen und wie die soziale Praxis in die Normen zurückstrahlt.
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