Die großen Fragen des LebensFrage 96: Kann künstliche Intelligenz uns alle gesünder machen?Auszug aus dem Interview im Hamburger Abendblatt
6. Januar 2020, von Digitale Kommunikation und Design
Foto: Thorsten Ahlf
Prof. Dr. Christian Gerloff (l.) und Prof. Dr. Martin Spindler.
Krankenhäuser und die Digitalisierung – in Deutschland sind sie noch keine großen Freunde. Warum das schade ist, erklären Prof. Dr. Christian Gerloff und Prof. Dr. Martin Spindler. Sie wissen auch um die Vorteile einer digitale Patientenakte, wie ein Chip im Gehirn eine Hand steuern könnte, und warum künstliche Intelligenz (KI) einen Arzt niemals ersetzen wird.
Hamburger Abendblatt: Was kann KI im Gesundheitsbereich momentan schon leisten und was zukünftig?
Prof. Dr. Martin Spindler: Es gibt verschiedene Anwendungen im Versicherungsbereich; beispielsweise kann sie Betrug von Abrechnungen bei privaten oder gesetzlichen Krankenkassen herausfinden. Solche Fälle sind leicht zu erkennen. Im medizinischen Bereich wird KI bereits für schnellere und genauere Diagnosen eingesetzt, der Arzt wird also unterstützt. Momentan gibt es viele spannende Entwicklungen. Man wird zum Beispiel bald Prothesen durch seine Gehirnströme steuern können.
Ich denke also künftig: „Ich will gehen.“ Und dann gehe ich?
Prof. Dr. Christian Gerloff: Genau. Es gibt bereits bemerkenswerte Experimente aus den USA dazu. Sie zeigen, dass es zum Beispiel möglich ist, über einen Chip auf der Hirnrinde mit wenigen Elektroden durch Gedanken einen Cursor auf einem Computer-Bildschirm zu steuern. Für eine Prothesensteuerung ist das noch nicht gut genug, aber genau hier kann KI weiterhelfen.
Es würde sich aber doch niemand einen Chip ins Gehirn operieren lassen.
Gerloff: Jein. Es gibt Tausende Parkinsonpatienten mit Elektroden, die in das Gehirn hineinoperiert wurden. Dennoch sind die Vorbehalte gegen solche Operationen in Deutschland eher hoch. Es gibt auch die Möglichkeit, die Signale von der Oberfläche des Kopfes abzuleiten, auch mit Elektroden, aber ohne Operation. Die Signale sind dann nicht so klar, es kommt dann darauf an, wie viel Informationen aus dem verrauschten Signal herausgelesen werden können. Ich bin zuversichtlich, dass es mit KI gelingen kann, einfache Muster wie „Hand schließen“ oder „Hand öffnen" auch auf diese Weise herauszulesen. Schlaganfall-Patienten beispielsweise können häufig ihre Hand schließen, bekommen sie aber nicht wieder auf. Die Handöffnung könnte man durch eine sogenannte aktive Orthese, also in diesem Fall eine Art Handschiene mit Elektromotoren erreicht werden, und die Orthese könnte man mit einfachen Befehlen aus der abgeleiteten Hirnaktivität steuern.
Aber sprechen wir von einer nahen oder einer fernen Zukunft?
Gerloff: Bis diese Möglichkeit für Patienten breit verfügbar wird, gehen noch fünf bis zehn Jahre ins Land. Leider.
Wenn Sie „leider“ sagen, dann scheint Ihnen das nicht schnell genug zu gehen. Wo steht Deutschland derzeit? Sind andere Länder in der Entwicklung weiter als wir?
Gerloff: Wir sind ein Schlusslicht! KI ist nur einsetzbar, wenn Gesundheitsdaten in digitaler Form vorliegen. Selbst bei den Unikliniken haben bislang nur 58 Prozent eine digitale Patientenkurve, in der immer aktuell alle wichtigen Werte dokumentiert werden, bei den kleineren Krankenhäusern sind es sogar nur sechs Prozent. Wenn wir also die gesamte Krankenhauslandschaft Deutschlands anschauen, haben wir einen minimalen Grad an Digitalisierung. Wir brauchen flächendeckend eine digitale Akte mit digitaler Kurve, also einen vollwertigen Electronic Medical Record. Das ist die Priorität Nummer eins in Deutschland.
Spindler: Selbst wenn ein Krankenhaus Daten hat, gibt es keine Chance für uns Wissenschaftler, da ranzukommen. Die Hürden sind einfach zu groß.
Woran liegt' s?
Gerloff: „Datenschutz“ und „Sektorengrenzen“ sind hier die Stichwörter. Typisch deutsche Dinge. Das gibt es in dieser blockierenden Form in anderen Ländern nicht, hierzulande gibt es eine unfassbare Angst davor, Daten an zentraler Stelle zusammenlaufen zu lassen.
Natürlich empfinden viele Menschen die Digitalisierung in der Medizin als Bedrohung. Wie könnte man diese denn bändigen?
Spindler: Indem wir den Fokus nicht nur auf die negativen Aspekte legen. Jede Technologie hat Vor- und Nachteile. Die Technologie wird vieles verändern und hat viele Vorteile für den Patienten. Das Ziel ist eine bessere Behandlung. Es geht um den Patienten - nicht darum, dass irgendwelche Daten missbraucht werden.
Gerloff: Plakativ könnte man sagen: In Deutschland geht nicht selten Datenschutz vor Patientenschutz. Das ist eine Bremse.
Dann lassen Sie uns doch die von Ihnen versprochenen Vorteile herausarbeiten. Kann ein Algorithmus beispielsweise ein EKG besser lesen als ein Kardiologe? Ein Roboter besser operieren als ein Chirurg?
Gerloff: Ein Schachcomputer schlägt jetzt schon die besten Spieler. Wenn ein KI-Algorithmus zehn Millionen Röntgenbilder von der Lunge analysiert hat und dabei gute Lehrer an der Seite hatte, die seine Befunde immer wieder korrigiert und das System so trainiert haben, dann wird er ein Assistent sein, den wir nicht mehr missen wollen. In der Luftfahrt läuft schon vieles über Assistenzsysteme, und auch da fürchteten die Piloten in den Anfangsjahren, ihre Skills zu verlieren, doch es wurde daraus kein Verlernen, sondern ein Umlernen. Die Luftfahrt ist heute sicherer. Warum sollte das in der Medizin nicht gehen?
Na ja, wenn ein anderer anstatt meiner operiert?
Gerloff: Das macht ja keiner. Diese Roboter, die heute im Einsatz sind, übersetzen Bewegungen, die ein Arzt macht, in kleinere, präzise Bewegungen. Das hat mit AI eigentlich gar nichts zu tun, dabei handelt es sich um ein hochpräzises Instrument, aber wir sind weit davon entfernt, dass so ein Roboter sagen kann: „Ich mache die Prostata mal schnell alleine raus.“
Sieht man mithilfe der Technik besser und schneller, und spielt Zeit bei einer Behandlung den entscheidenden Faktor?
Gerloff: Klar. Ich bin ein völliger Verfechter dieser Entwicklung und habe überhaupt keine Angst davor, denn unser Arbeiten wird besser und die Qualität für den Patienten somit auch. Beispiel Notaufnahme: Ich habe einen Patienten, dem geht es nicht gut, mir liegen seine Laborwerte und ein EKG vor, die Werte gebe ich ein, und der Computer sagt: „Denk an diese sechs Sachen.“ Ich alleine denke vielleicht nur an fünf. Es ist ein checklistenartiges Unterstützen beim Abarbeiten von wichtigen Schritten in der Diagnostik. Das nächste Level wäre: Es gibt viele Studien. Wenn die gut miteinander vernetzt sind, kann mir der Computer wichtige Informationen aus aller Welt auf Zuruf ausspucken. Ich gebe ein: „Seltener Tumor im Bauchraum“ und bekomme eine neue Leitlinie der amerikanischen onkologischen Gesellschaft und eine Studie, die vorgestern zum ersten Mal einen Antikörper XY getestet hat, und der war effektiv.
Dann gäbe es kein Herrschaftswissen mehr.
Gerloff: Und das ist gut für die Gesamtheit! Früher gab es den einen Arzt in München, der sollte der Beste auf diesem und jenem Gebiet sein, aber wer in Hamburg sitzt, hat nichts davon. Die Systeme können für den Zugang zu maximaler Information sorgen.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
zum Interview: Kann künstliche Intelligenz uns alle gesünder machen?
Prof. Dr. Martin Spindler ist Professor für Statistik und Ökonometrie an der Universität Hamburg. Seine Forschungsgebiete sind maschinelles Lernen, künstliche Intelligenz und die Kombination von kausaler Folgerung und KI. Er unterstützt Unternehmen dabei, KI für betriebliche Fragestellungen anzuwenden.
Prof. Dr. Christian Gerloff ist Neurologe, leitet seit 2006 die Klinik und Poliklinik für Neurologie des UKE und ist seit 2013 stellvertretender Ärztlicher Direktor des UKE. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind die Organisation des menschlichen Gehirns als neuronales Netzwerk, seine Plastizität und die Diagnostik und Therapie von Schlaganfällen.
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