
Die großen Fragen des LebensFrage 97: Was ist Kunst?Auszug aus dem Interview im Hamburger Abendblatt
13. Januar 2020, von Digitale Kommunikation und Design

Foto: Roland Magunia / Funke Foto Services
Prof. Dr. Friedrich Geiger (l.) mit einem Metronom. Prof. Dr. Frank Fehrenbach zeigt ein von der Natur poliertes Kunstwerk aus Kalkstein („Ruinenmarmor“).
Kunst begeistert, inspiriert, sorgt aber auch für Irritation und Verstörung. Und wer entscheidet eigentlich darüber, ob etwas gute, für die Ewigkeit geschaffene Kunst ist – oder eben nicht. Zwei, die sich damit auskennen, sind der Kunsthistoriker Prof. Dr Frank Fehrenbach und der Musikwissenschaftler Prof. Dr Friedrich Geiger.
Hamburger Abendblatt: Wann haben Sie zuletzt gedacht, ist das Kunst oder kann das weg?
Prof. Dr Frank Fehrenbach: Zuletzt habe ich das auf der diesjährigen Kunstbiennale in Venedig im Mai gedacht. Weil es zu eindeutige Aussagenkunst war. Inhaltskunst. Es ging eher darum, einen Inhalt, in dem Fall den Klimawandel, zu verpacken, teilweise zu verklausulieren, um am Ende dann eine doch relativ simple Antwort zu geben und das Thema totzureiten.
Prof. Dr Friedrich Geiger: Mir ging das ganz ähnlich vor zehn Tagen im Hamburger Bahnhof in Berlin. Man erkennt eine Idee, ein politisches oder gesellschaftliches Anliegen, das transportiert werden soll. Aber die Kunst bestünde darin, dafür eine Form zu finden, die ästhetisch aus sich heraus überzeugt und nicht nur platte Staffage ist.
Was ist das überhaupt – Kunst? Sie besagt ja gemäß Definition eine Tätigkeit, die auf Wissen, Übung, Wahrnehmung, Vorstellung und Intuition gründet. Wer befindet aber darüber, was Kunst ist und was nicht?
Geiger: In der Musik gibt es den merkwürdigen Begriff der Kunstmusik. Damit ist Musik gemeint, die einen künstlerischen Anspruch erhebt und keinen Zweck außerhalb ihrer selbst verfolgt. Sie soll also nicht zum Essen oder zum Tanz gespielt werden, sondern nur für sich stehen. Der Begriff ist problematisch, weil er nahelegt, dass alles andere eben nicht Kunst und damit von vornherein minderwertig ist. Es gibt Sparten, die sich dagegen wehren, zum Beispiel der Jazz. Und wenn man sich den Eurovision Song Contest anschaut, dann werden da auch ganz selbstverständlich „Künstler“ angesagt. Das Problem ist, wer hier entscheidet. In der Musik ist Kunst ein Begriff, der ständig verhandelt werden muss. Der auch mit Machtstrukturen und Hierarchien zu tun hat.
Fehrenbach: Ich würde sagen, es wäre sinnvoll, von den Künsten im Plural zu reden. Das würde dann die ersten, 40.000 Jahre alten künstlerischen Artefakte auf der Schwäbischen Alb genauso wie die auf der Biennale gezeigten Arbeiten umfassen. Ich hätte hier eine kurze Definition: Der minimale Anspruch, den der Begriff Kunst hat, ist der, dass es sich um ein Artefakt handelt, das eine dauerhafte Faszination ausübt und zwar so, dass die Faszination nicht verbunden ist mit üblichen Bereichen der Konsumption, des Handels, des Verbrauchs und auch nicht mit denen des bloßen sinnlichen Genusses.
Kommt Kunst eigentlich immer noch von Können?
Geiger: Können spielt eine zentrale Rolle, selbst dann, wenn es gezielt unterlaufen wird. Es gibt ja auch Konzepte in der bildenden Kunst und in der Musik, die auf der Verweigerung des Könnens beruhen, etwa auf Zufall. Ich denke an John Cage, der eine Komposition auswürfelt. Oder an Jackson Pollock, der nicht genau kontrollieren kann, was mit der Farbe passiert. Da liegt aber auch ein gesteuertes Moment drin, das wieder ästhetisches Können ist – wenn ich etwas bewusst dem Zufall überlasse, gehe ich auch planvoll vor. Eine andere Art, Können zu unterlaufen, ist der bewusste Dilettantismus, etwa in der Punkbewegung.
Fehrenbach: Man kann ja auch sagen, das wahre Können zeigt sich darin, dass es sich verbirgt. Die größten Meister schaffen mit leichter Hand, besagt das Argument, und niemand sieht, wie viel Mühen es ihnen bereitet. Michelangelo zum Beispiel hat seine Zeichnungen verbrannt, damit niemand sehen kann, welche Anstrengung in seine Werke gegangen ist. Andererseits gibt es eben die Formen des Aleatorischen und Zufälligen. Ich habe erst neulich wieder den „Block“ von Joseph Beuys im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt angeschaut. Diese Installationen sind mit mir 20 Jahre älter geworden, und es gibt da faszinierende Alterungsprozesse von Materialien wie Fett. Das hat auch eine unglaubliche Kraft. Andererseits kann man sagen: Das Handwerk ist in letzter Zeit wieder wichtiger geworden, wie mir scheint. Der teuerste lebende Künstler der Welt, Jeff Koons, führt das ja vor. Seine Hochglanzpolituren sind von einer unglaublichen Materialperfektion. Da stehen allerdings große Werkstätten dahinter.
Joseph Beuys wandelte ja das Zitat von Novalis „Jeder Mensch kann ein Künstler sein“ in „Jeder Mensch ist ein Künstler“ um. Für ihn war das Schöpferische das Künstlerische. Ist denn wirklich jeder, der sich Künstler nennt, damit automatisch auch schon einer?
Fehrenbach: Das Konzept hat Vorläufer in der Zeit um 1900. Der italienische Kunsthistoriker Benedetto Croce verstand alles, was wir tun, als Gestaltung, als Ausdruck. Auch bei ihm sind wir alle Künstler. Es ist aber eine anthropologische Tatsache, dass wir künstlerisch tätig sind. Hans Jonas hat das in seinem Text über den „Homo Pictor“ auf den Punkt gebracht. Der Mensch wurde zum Menschen, als er anfing, Formen dauerhaft nachzuahmen, zu malen. Insofern hebt Beuys etwas ins Bewusstsein, das vorher schon in der Diskussion war.
Geiger: Ich möchte gerne auf die Komponente der dauerhaften Faszination zurückkommen, die Herr Fehrenbach genannt hat. Denn die Musik unterliegt wohl noch stärker Moden als die bildende Kunst. Es gibt einen unglaublich schnellen Turnus in der Popmusik, wo die Charts von letzter Woche schon veraltet sind. Dem steht dann ein Kanon ewiger Meisterwerke gegenüber. Es stellt sich die Frage, welche Rolle dauerhafte Faszination spielt und inwieweit das zur Kunstdefinition mit dazugehört. Kann etwas, das mir nur heute gefällt, keine Kunst sein?
Was ist denn dann gute, was eher schlechte Kunst?
Fehrenbach: Es gab den Versuch, das Qualitätsurteil im 20. Jh. stark an einen situativen Moment zu knüpfen. Beuys sagte sinngemäß, man müsse am richtigen Ort zur richtigen Zeit die richtige Sache tun; das sei Kunst. Es gibt aber auch Kunst, die wirkt ganz situationsunabhängig fort. Zum Beispiel die schon erwähnten 40.000 Jahre alten Knochenskulpturen aus Süddeutschland. Man stellt andererseits auch an sich selbst fest, dass schlechte Kunst der Vergangenheit manchmal so etwas wie Rührung erzeugt. Das kann man zum Beispiel bei manchen Gebäuden der Nachkriegszeit beobachten.
Geiger: Ich orientiere mich bei der Bewertung an den Ansprüchen, die von den Produzenten selbst erhoben werden. Der von mir hoch verehrte Paul McCartney beispielsweise zählt auf seinem Gebiet zu den Genies der Musikgeschichte. Aber für die großen Oratorien, die er auch veröffentlicht hat, sind seine künstlerischen Mittel nicht geeignet. Da entsteht kein ästhetisches Gelingen, ebenso wenig, wenn man eine zwölftönige Fuge komponiert, um den Eurovision Song Contest zu gewinnen. Das ästhetische Anliegen und die künstlerischen Mittel müssen zusammenstimmen.
Fehrenbach: Mir kommt es vor, als könnte das Qualitätskriterium sehr stark zusammenhängen mit dem, was in der Ästhetik um 1800 passiert ist: Ein Artefakt macht ein Angebot an mich Rezipienten, in einer ganz bestimmten Weise innerlich in Bewegung zu kommen. Der Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant, hat diese Begründung in die Ästhetik-Geschichte hineingebracht – später wurde sie von Friedrich Schiller aufgegriffen. Bei Kant und Schiller geht es, platt gesagt, darum, mich selbst in ein spielerisches Verhältnis zur Welt zu bringen, sodass ich hinterher anders in ihr stehe als zuvor.
Geiger: Darum sind wir auch geneigt, Kunstwerke am höchsten zu schätzen, die unendliche Deutungs- und Verständnismöglichkeiten bieten. Dass ein Werk wie Beethovens 9. Sinfonie ein Dauerbrenner ist, liegt auch daran, dass man es immer wieder anders hören und verstehen kann.
Für Friedrich Schiller war die ästhetische Erziehung des Menschen entscheidend. Er schrieb, dass der Mensch zum ästhetischen Idealzustand mit größtmöglicher persönlicher Freiheit finde über das ästhetische Spiel, also echte Kunst, die weder darstellend noch repräsentativ ist, aber empfunden werden muss. Was sagt uns das heute?
Geiger Ich würde dem ersten Teil voll und ganz, dem zweiten nur bedingt zustimmen. Es gibt auch Kunst, zum Beispiel naturalistische Stilrichtungen, deren ästhetische Faszination im Abbilden der Wirklichkeit liegt, die aber gleichzeitig ein bisschen von dieser differiert, also eine Hyperrealität erzeugt. In der Musik gilt das zum Beispiel für Programmmusik, für musikalische Deskription, die nicht per se unkünstlerische „Tonmalerei“ ist. Die Wirklichkeit im Spiegel der Musik wahrzunehmen, kann unglaublich erhellend sein.
Fehrenbach: Schillers Hauptprogramm würde ich gerade heute für unendlich wichtig halten. Dass durch Formen ästhetischer Wahrnehmung überhaupt so etwas wie Mündigkeit und Freiheit ermöglicht wird, müsste Grundlage eines jeden Erziehungsprogrammes sein. Es ist ja leider eine Tatsache, dass Politik heute weitgehend Bilderpolitik geworden ist. Man will manche Bilder unbedingt vermeiden und andere produzieren. Das hängt damit zusammen, dass man mit Bildern ein unspielerisches Verhältnis eingegangen ist und sie für Realität hält. Man traut ihnen zu, direkt ansteckend zu wirken. Dagegen müsste so etwas wie Kompetenz im Umgang mit Bildern schon im Unterricht verankert werden.
Das vollständige Interview lesen Sie im Hamburger Abendblatt:
zum Interview: Was ist Kunst?
Prof. Dr. Frank Fehrenbach studierte Kunstgeschichte, Geschichte und Philosophie in Tübingen und Basel und lehrte u. a. in Harvard. Seit 2013 hat er eine Humboldt-Professur an der Universität Hamburg inne und leitet die Forschungsstelle Naturbilder am Kunstgeschichtlichen Seminar. Fehrenbach ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg.
Prof. Dr. Friedrich Geiger studierte Musik, Historische und Systematische Musikwissenschaft sowie Lateinische Philologie in München und Hamburg. Er ist nach Stationen in Dresden und Berlin seit 2007 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg.
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