Wo man auf der Reeperbahn nicht nur schräge Vögel findet
9. Oktober 2018, von Hendrik Tieke
Manche haben viel zum Charme der Reeperbahn beigetragen – wie der Theatermacher Corny Littmann. Andere sind dem Charme des Kiezes erneut erlegen und dorthin zurückgekehrt – wie der Bierschnegel. Dr. Marco Neiber, Biologe der Universität Hamburg, hat diese seltene Schneckenart wiederentdeckt.
St. Pauli hat einen neuen Einwohner, der vor langer Zeit schon mal hier lebte. Besonders haben es ihm die verwinkelten Innenhöfe des Stadtteils angetan. Denn dort ist es feucht und schattig, und Abluftrohre wärmen ihn – das perfekte Klima für seinen schleimigen Körper, der zu 90 Prozent aus Wasser besteht. In Hamburg hat man ihn lange nicht mehr gesehen, 1935 das letzte Mal in Othmarschen. Dr. Marco Neiber, Biologe der Universität Hamburg, hat ihn wiederentdeckt: den Bierschnegel, eine Schnecke, die in der Hansestadt schon als ausgestorben galt.
Eine Schnecke, die Hopfen und Malz liebt
Neiber ist Schneckenexperte am Centrum für Naturkunde (CeNak) der Universität Hamburg. 2015 stand er zufällig im Hinterhof eines Hostels auf der Reeperbahn. Als er den Ausgang eines Luftschachtes ansah, fiel ihm dort eine knapp fingerlange Nacktschnecke auf, mit grüngelbem, fleckigen Muster und bläulichen Stielaugen. Er staunte: Was er hier sah, war ein Bierschnegel. Von dem dachte man lange, er würde fast nur noch in Kleinstädten vorkommen, weil es dort mehr Altbauten und damit mehr feuchte Untergeschosse gibt als in Metropolen wie Hamburg.
„Bierschnegel heißen so, weil sie früher häufig auch in Brauereien lebten“, erklärt Neiber. „Damals lagerten Hopfen und Malz oft in schlecht isolierten feuchten Kellern, die noch nicht so stark hygienisch reguliert waren wie die von heutigen Brauereien. Überall lagen deshalb kleine, sich zersetzende Pflanzenreste herum – die Lieblingsspeise der Schnecke.“ Im 20. Jahrhundert schwand ihre Population, vor allem in Großstädten. Denn dem zweiten Weltkrieg waren viele Altbauten mit ihren feuchten Untergeschossen zum Opfer gefallen und durch moderne Gebäude ersetzt worden.
Im 21. Jahrhundert wird sich der Bierschnegel wieder in Deutschland ausbreiten, vermutet Neiber: „Mit dem Klimawandel wird es wärmer, und das gefällt ihm gut.“ Aber er sei keine bedrohliche Art, meint der Biologe. Ganz im Gegenteil: „Er frisst niemandem den Kohl weg, weil er fast nur vermodernde Pflanzen mag. Und auf seinem Speiseplan stehen auch die Eier der spanischen Wegschnecke, eines in ganz Deutschland lebenden Ernteschädlings. Außerdem ist der Bierschnegel ein Nachtschwärmer: Vor 22 Uhr lässt er sich nur sehr selten blicken – eine Zeit, bei der es auch auf der Reeperbahn erst so richtig losgeht.“ Gut möglich also, dass die Schnecke bald zum Kiez gehören wird wie Partyvolk, Kultkneipen, Theaterbühnen – und Corny Littmann.
Das Gesicht St. Paulis
Littmann ist das vielleicht bekannteste Gesicht St. Paulis: Schauspieler, Theatermacher, Fußballgröße und Aktivist für die Rechte Homosexueller. Ab 1970 studierte er sieben Semester an der Universität Hamburg Psychologie. „Dort habe ich gelernt, zu lernen – mich also schnell in neue Themengebiete einzuarbeiten, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und neue Aufgaben strukturiert und effektiv anzugehen“, sagt Littmann. „Das hat mir im späteren Leben erheblich genützt.“
Und in diesem ist Littmann dann zu einer prägenden Größe St. Paulis geworden – und das nicht nur in der Theaterszene: Mit der Schauspielgruppe „Brühwarm“ hat er die Anliegen der Schwulenbewegung mit Humor vermittelt. Er trat mit berühmten Travestierkünstlern auf und gründete das „Schmidt Theater“ auf der Reeperbahn, Deutschlands erfolgreichste Privatbühne. Als Präsident des 1. FC St. Pauli hat er den Verein wieder auf die Beine gestellt und in die Erste Liga geführt, als dieser in große finanzielle Schwierigkeiten geraten war. Heute führt er drei Theater auf dem Kiez, ist Inhaber von mehreren Kneipen und eines Restaurants.
Auf St. Pauli gibt es keine schrägen Vögel – genaugenommen
„Das Besondere an St. Pauli und der Reperbahn ist die Toleranz, die hier ein Lebensgefühl ist“, sagt Littmann. „In unserem Kiez leben Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern, mit verschiedenen sexuellen Orientierungen, Geschmäckern oder Biografien. Wenn Du hierhin kommst, verurteilt Dich niemand, hier kannst Du so sein, wie Du bist.“ Und deshalb, so findet Littmann, gebe es auf St. Pauli genaugenommen auch gar keine schrägen Vögel – auch wenn viele Auswärtige das so wahrnehmen würden.
„Es ist ja eine Frage der Perspektive, was schräg ist, also nicht ins Bild passt. Das Bild St. Paulis ist aber bunt und vielfältig – jeder kann hier seinen Platz finden.“ So wie der Bierschnegel, St. Paulis neuester Bewohner. Littmann mag den kleinen Kerl, nicht nur wegen seines kiezaffinen Namens. „Leider ist er zu klein, um ihn bei unseren Stücken mitspielen zu lassen“, sagt Littmann. „Aber sollten wir demnächst mal einen Bierschnegel auf dem Gelände unseres Theaters finden, dann darf er natürlich bleiben und wir würden uns um ihn kümmern.“
Weitere Informationen
Die Artenvielfalt dieser Erde beobachten und erhalten, auch in Hamburg: Das ist eines der Hauptanliegen der Forscher und Forscherinnen des Centrums für Naturkunde der Universität Hamburg (CeNak). Dafür untersuchen sie zuhause und weltweit, wie Tiere leben und sich unter verschiedenen Umweltbedingungen entwickeln. Über die Jahrzehnte haben sie und ihre Vorgänger eine der größten naturwissenschaftlichen Sammlungen Europas erstellt – mit rund 10 Millionen Objekten. Eine Auswahl davon machen die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen des CeNak der Öffentlichkeit zugängig: in den Museen der Universität Hamburg. Der Eintritt ist frei.
- Im Geologisch-Paläontologischen Museum erzählen sie die spannende Geschichte der Entwicklung des Lebens vom Einzeller bis zum Neandertaler – zum Beispiel anhand von in Bernstein eingeschlossenen Urzeit-Insekten, Saurierfossilien oder Knochen ausgestorbener Säugetiere.
- Im Zoologischen Museum zeigen sie, welche Wunder die Evolution hervorgebracht hat – anhand einer der größten Sammlungen präparierter Tiere in Deutschland, darunter auch das berühmte NDR-Walross „Antje“.
- Im Mineralogischen Museum des CeNak geht es zwar nicht um Tiere, doch auch hier haben die Forscher des CeNak eine beeindruckende Fülle an Kristallen, Erzen und Edelsteinen für die Öffentlichkeit zusammengestellt – inklusive einiger Meteoriten aus dem Weltall.
Downloads
Hier können Sie alle Plakate der Kampagne als PDF herunterladen:
Kontakt
Dr. Marco Neiber
Universität Hamburg - Centrum für Naturkunde (CeNak)
Martin-Luther-King-Platz 3
20146 Hamburg
Tel.: +49 40 42838-5644